Ovid, Buch I: Metamorphosen 253-312 (Deutsche Übersetzung) – Die Sintflut
Lateinischer Text | Übersetzung |
(253) Amque erat in totas sparsurus fulmina terras; sed timuit, ne forte sacer tot ab ignibus aether conciperet flammas longusque ardesceret axis: Esse quoque in fatis reminiscitur, adfore tempus, quo mare, quo tellus correptaque regia caeli ardeat et mundi moles obsessa laboret. Tela reponuntur manibus fabricata cyclopum; poena placet diversa, genus mortale sub undis perdere et ex omni nimbos demittere caelo. | (253) Schon war er drauf und dran, Blitze über alles Erdreich zu schleudern, doch fürchtete er, dass der ehrwürdige Himmel von so vielen Feuern Flammen finge und die lange Erdachse sich entzündete. Auch erinnert er sich, dass Weissagungen entsprechend eine Zeit kommen werde, in der Meer und Erde und die mitgerissene Pracht des Himmels Feuer fingen und das bedrängte Weltgebäude ächzen werde. Die von Zyklopenhand gefertigten Blitze werden weggelegt; einer anderen Strafe gibt er den Vorzug: das Geschlecht der Sterblichen in Wasserfluten zu verderben und vom gesamten Himmel Regengüsse herabfallen zu lassen. |
(262) Protinus Aeoliis Aquilonem claudit in antris et quaecumque fugant inductas flamina nubes emittitque Notum. Madidis Notus evolat alis, terribilem picea tectus caligine vultum; barba gravis nimbis, canis fluit unda capillis; fronte sedent nebulae, rorant pennaeque sinusque. Utque manu lata pendentia nubila pressit, fit fragor: hinc densi funduntur ab aethere nimbi; | (262) Unverzüglich schließt er Aquilo (den Nordwind) und alle Winde, welche die aufgezogenen Wolken vertreiben (könnten), in äolische Höhlen ein und sendet Notus (den Südwind) aus. Notus schwingt sich mit feuchten Flügeln empor, das schreckliche Gesicht von pechschwarzer Finsternis bedeckt, der Bart schwer vom Regen, Wasser strömt von den grauen Haaren, auf der Stirn sitzen Nebel, die Federn und das Gewand sind vom Tau überzogen; kaum drückt er mit der Hand die weit herabhängenden Wolken zusammen, entsteht Donner, strömen ergiebige Regengüsse vom Himmel. |
(270) Nuntia Iunonis varios induta colores concipit Iris aquas alimentaque nubibus adfert. sternuntur segetes et deplorata coloni vota iacent, longique perit labor inritus anni. Nec caelo contenta suo est Iovis ira, sed illum caeruleus frater iuvat auxiliaribus undis. convocat hic amnes: Qui postquam tecta tyranni intravere sui, ‘non est hortamine longo nunc’ ait ‘utendum; vires effundite vestras: sic opus est! aperite domos ac mole remota fluminibus vestris totas inmittite habenas!’ Iusserat; hi redeunt ac fontibus ora relaxant et defrenato volvuntur in aequora cursu. | (270) Iris, die bunt gekleidete Botin der Juno, sammelt Wasser und schafft den Wolken Nahrung herbei; die Felder sind (vom Wasser) bedeckt; was den Siedlern versprochen war (die Ernte), liegt beweint darnieder und die vergebliche Arbeit eines langen Jahres ist verloren. Doch der Zorn Jupiters begnügt sich nicht mit seinem Wetter; auch sein meerblauer Bruder unterstützt ihn mit hilfreichen Wogen. Dieser ruft die Wassergeister zusammen. Nachdem sie das Haus ihres Herrschers betreten haben, spricht er: Es bedarf keiner weitschweifigen Aufforderung. Entfesselt eure Kräfte, so muss es sein. Öffnet eure Häuser – und wenn der Damm beseitigt ist, gebt euren Fluten völlig freien Lauf. Er hatte den Befehl ausgesprochen; diese kehren zurück, öffnen ihren Quellen die Schleusen und lassen sie in ungezügeltem Lauf zum Meer wälzen. |
(283) Ipse tridente suo terram percussit, at illa intremuit motuque vias patefecit aquarum. exspatiata ruunt per apertos flumina campos cumque satis arbusta simul pecudesque virosque tectaque cumque suis rapiunt penetralia sacris. si qua domus mansit potuitque resistere tanto indeiecta malo, culmen tamen altior huius unda tegit, pressaeque latent sub gurgite turres. Iamque mare et tellus nullum discrimen habebant: omnia pontus erant, derant quoque litora ponto. | (283) Er selbst erschütterte die Erde mit seinem Dreizack. Jene aber erbebte und öffnete durch ihr Beben Bahnen für das Wasser. Über die Ufer getretene Flüsse ergießen sich über die offenen Felder; mit den Saaten reißen sie Waldungen, Vieh und Menschen hinweg, heilige Gebäude zusammen mit ihren Götterbildnissen. Und wenn irgendein Haus übrig blieb und solch großem Unheil unzerstört standhalten konnte, wurde sein Dachfirst dennoch von einer höheren Woge überschwemmt und versenkt liegen die Türme unter dem Strudel verborgen. Und schon gab es keinen Unterschied mehr zwischen Meer und Festland: alles war Meer und das Meer hatte auch keine Küsten. |
(293) Occupat hic collem, cumba sedet alter adunca et ducit remos illic, ubi nuper arabat: ille supra segetes aut mersae culmina villae navigat, hic summa piscem deprendit in ulmo. figitur in viridi, si fors tulit, ancora prato, aut subiecta terunt curvae vineta carinae; et, modo qua graciles gramen carpsere capellae, nunc ibi deformes ponunt sua corpora phocae. | (293) Einer besetzt einen Hügel, ein anderer sitzt im gebogenen Nachen und lenkt die Ruder dahin, wo er früher gepflügt hatte (ararat=araverat); jener segelt über Felder hinweg oder über die Giebel eines versunkenen Landgutes, dieser fängt im Wipfel der Ulme einen Fisch, der Anker bohrt sich ins grüne Gras, wenn der Zufall es will, gebogene Schiffskiele streifen über darunterliegende Weinberge und unförmige Robben legen ihre Leiber jetzt dahin, wo eben noch schlanke Ziegen das Gras abrupften. |
(301) mirantur sub aqua lucos urbesque domosque Nereides, silvasque tenent delphines et altis incursant ramis agitataque robora pulsant. Nat lupus inter oves, fulvos vehit unda leones, unda vehit tigres; nec vires fulminis apro, crura nec ablato prosunt velocia cervo, quaesitisque diu terris, ubi sistere possit, in mare lassatis volucris vaga decidit alis. | (301) Die Nereiden staunen über Wälder, Städte und Gebäude unter dem Wasser, Delphine schwimmen zu Parkanlagen, Schiffe stoßen mit den Rudern an hochgelegene Zweige und hin und her geschüttelt erzittern sie. Ein Wolf schwimmt zwischen Schafen umher, eine Woge trägt dunkelgelbe Löwen, eine Woge trägt Tiger. Dem Eber nützen nicht die Kräfte eines Blitzes, dem Hirsch nicht die schnellen Beine, da sie fortgerissen sind. Ein irrender Vogel stürzt nach langer Suche nach einem Stück Land, wo er ausruhen kann, mit ermatteten Flügeln ins Meer. |
(309) Obruerat tumulos inmensa licentia ponti, pulsabantque novi montana cacumina fluctus. Maxima pars unda rapitur; quibus unda pepercit, illos longa domant inopi ieiunia victu. | (309) Durch die unermessliche Freiheit des Meeres hatte die Flut die Hügel unter sich begraben und Flutwellen schlugen immer wieder neu an die Berggipfel. Den größten Teil reißt das Wasser fort, und welche die Woge verschont, besiegen lange Hungersnöte aufgrund von Nahrungsmangel. |
Kapitelübersicht
- Metamorphosen
- Ovid: Metamorphosen 1-4
- Ovid: Metamorphosen 5-20
- Ovid: Metamorphosen 21-42
- Ovid: Metamorphosen 43-68
- Ovid: Metamorphosen 69-88
- Ovid: Metamorphosen 89-112
- Ovid: Metamorphosen 113-124
- Ovid: Metamorphosen 125-126
- Ovid: Metamorphosen 127-150
- Ovid: Metamorphosen 151-162
- Ovid: Metamorphosen 163-208
- Ovid: Metamorphosen 209-239
- Ovid: Metamorphosen 240-252
- Ovid: Metamorphosen 253-312
- Ovid: Metamorphosen 313-415
- Ovid: Metamorphosen 416-433
- Ovid: Metamorphosen 434-451
- Ovid: Metamorphosen 452-567
- Ovid: Metamorphosen 568-688
- Ovid: Metamorphosen 689-712
- Ovid: Metamorphosen 713-750
- Ovid: Metamorphosen 750-779