Ovid, Buch II: Metamorphosen 301-400 (Deutsche Übersetzung) – Phaeton (II.3)
Lateinischer Text | Übersetzung |
(301) Dixerat haec Tellus: neque enim tolerare vaporem ulterius potuit nec dicere plura suumque rettulit os in se propioraque manibus antra; at pater omnipotens, superos testatus et ipsum, qui dederat currus, nisi opem ferat, omnia fato interitura gravi, summam petit arduus arcem, unde solet nubes latis inducere terris, unde movet tonitrus vibrataque fulmina iactat; sed neque quas posset terris inducere nubes tunc habuit, nec quos caelo demitteret imbres: intonat et dextra libratum fulmen ab aure misit in aurigam pariterque animaque rotisque expulit et saevis conpescuit ignibus ignes. | (301) Die Erdgöttin hatte gesprochen (sie konnte nämlich weder die Hitze weiter ertragen noch mehr sagen) und zog ihr Gesicht in sich selbst und in Höhlen zurück, die der Unterwelt näher waren (manibus hier von manes, Unterwelt, nicht von manus, Hand). Der allmächtige Vater aber beschwor die Überirdischen und auch den, der den Wagen hergegeben hatte, dass alles durch einen schweren Schicksalsschlag zugrunde gehen würde, wenn er nicht Hilfe schaffen würde. Mühsam steigt er zur höchsten Spitze der Burg empor, von wo aus er gewöhnlich die weiten Lande mit Wolken überzieht, von wo aus er das Grollen des Donners hervorruft und die zuckenden Blitze schleudert. Damals aber hatte er weder Wolken, mit denen er die Länder überziehen konnte, noch Regenschauer, die er vom Himmel senden konnte. So lässt er es donnern und er schleuderte mit Schwung einen Blitz von seinem rechten Ohr aus auf den Wagenlenker, stieß ihn vom Wagen, nahm ihm zugleich das Leben und bekämpfte das Feuer mit gewaltigen Flammen. |
(314) consternantur equi et saltu in contraria facto colla iugo eripiunt abruptaque lora relinquunt: illic frena iacent, illic temone revulsus axis, in hac radii fractarum parte rotarum sparsaque sunt late laceri vestigia currus. | (314) Die Pferde werden scheu. Nachdem sie einen Satz in die entgegengesetzte Richtung gemacht haben, reißen sie ihre Hälse aus dem Joch und lassen die zerrissenen Zügel zurück. Hier liegt das Zaumzeug, dort die von der Deichsel abgerissene Achse, an dieser Stelle die Speichen der zerbrochenen Räder, und weit verstreut sind die Überreste des zertrümmerten Wagens. |
(319) At Phaethon rutilos flamma populante capillos volvitur in praeceps longoque per aera tractu fertur, ut interdum de caelo stella sereno etsi non cecidit, potuit cecidisse videri. quem procul a patria diverso maximus orbe excipit Eridanus fumantiaque abluit ora. Naides Hesperiae trifida fumantia flamma corpora dant tumulo, signant quoque carmine saxum: hic : sitvs : est : phaethon : cvrrvs : avriga : paterni qvem : si : non : tenvit : magnis : tamen : excidit : avsis | (319) Phaeton aber stürzt kopfüber, die Haare von der verzehrenden Flamme rot gefärbt, und wird in weiter Bewegung durch die Luft getragen, so dass er bisweilen als ein Stern, auch wenn er nicht aus heiterem Himmel fiel, gefallen zu sein schien. Weit entfernt von seinem Vaterland nimmt ihn der riesige Eridanus (der Po) am anderen Ende der Welt auf und wäscht ihm das qualmende Gesicht ab. Die hesperischen Naiaden übergeben den Leib, der, getroffen vom dreigezackten Blitz, raucht, dem Grab und gravieren dazu folgenden Spruch in den Stein: Hier ruht Phaeton, der Lenker des väterlichen Wagens. Konnte er ihn auch nicht halten, stürzte er doch, nachdem er Großes gewagt hatte. |
(329) Nam pater obductos luctu miserabilis aegro condiderat vultus, et, si modo credimus, unum isse diem sine sole ferunt: incendia lumen praebebant aliquisque malo fuit usus in illo. | (329) Der bedauernswerte Vater hatte nämlich sein von schmerzlicher Trauer überzogenes Antlitz verborgen: Sofern wir es nur glauben wollen, soll dieser Tag ohne Sonne vergangen sein; die Brände sorgten für Licht, so hatte dieses Übel doch noch irgendeinen Nutzen. |
(333) at Clymene postquam dixit, quaecumque fuerunt in tantis dicenda malis, lugubris et amens et laniata sinus totum percensuit orbem exanimesque artus primo, mox ossa requirens repperit ossa tamen peregrina condita ripa incubuitque loco nomenque in marmore lectum perfudit lacrimis et aperto pectore fovit. | (333) Klymene aber durchwanderte, nachdem sie alles gesagt hatte, was man bei solch großem Unglück sagen musste, die ganze Welt voll Trauer und außer sich und zerrissen im Innersten, suchte und fand zunächst die entseelten Glieder, bald auch die Knochen – die Knochen freilich waren an fremdem Ufer bestattet. An dieser Stelle fiel sie nieder, begoss den Namen, den sie im Marmor gelesen hatte, mit ihren Tränen und wärmte ihn mit entblößter Brust. |
(340) nec minus Heliades fletus et, inania morti munera, dant lacrimas, et caesae pectora palmis non auditurum miseras Phaethonta querellas nocte dieque vocant adsternunturque sepulcro. luna quater iunctis inplerat cornibus orbem; illae more suo (nam morem fecerat usus) plangorem dederant: e quis Phaethusa, sororum maxima, cum vellet terra procumbere, questa est deriguisse pedes; ad quam conata venire candida Lampetie subita radice retenta est; | (340) Nicht weniger trauern die Töchter des Helios und geben dem Tod ihre Tränen als unverdiente Geschenke. Nachdem sie mit den Händen auf ihre Brust geschlagen haben, singen sie dem Phaeton, der es nicht hören wird, Tag und Nacht jämmerliche Wehklagen und werfen sich am Grab nieder. Viermal vervollständigt der Mond sein Rund mit verbundenen Hörnern: diese Zeit widmeten jene nach ihrer Sitte (denn der Brauch hatte eine Sitte hervorgebracht) der Klage. Als eine von ihnen, Phaetusa, die älteste der Schwestern, vom Boden aufstehen wollte, beklagte sie sich, dass ihre Füße erstarrt seien. Als die strahlende Lampetie versuchte, zu ihr zu kommen, wurde sie auf einmal von einer Wurzel zurückgehalten. |
(350) tertia, cum crinem manibus laniare pararet, avellit frondes; haec stipite crura teneri, illa dolet fieri longos sua bracchia ramos, dumque ea mirantur, conplectitur inguina cortex perque gradus uterum pectusque umerosque manusque ambit, et exstabant tantum ora vocantia matrem. | (350) Eine dritte, die sich anschickte, mit den Händen ihr Haar zu raufen, riss Blätter ab. Diese leidet, weil ihre Beine von einem Baumstamm umschlossen werden, jene, weil ihre Arme zu ausgedehnten Zweigen werden. Während sie sich noch darüber wundern, umschlingt Rinde ihren Unterleib und schließt sich nach und nach um Bauch und Brust, Schultern und Hände: nur noch die Gesichter standen hervor, die nach ihrer Mutter riefen. |
(356) quid faciat mater, nisi, quo trahat inpetus illam, huc eat atque illuc et, dum licet, oscula iungat? non satis est: truncis avellere corpora temptat et teneros manibus ramos abrumpit, at inde sanguineae manant tamquam de vulnere guttae. ‘parce, precor, mater,’ quaecumque est saucia, clamat, ‘parce, precor: nostrum laceratur in arbore corpus iamque vale’—cortex in verba novissima venit. inde fluunt lacrimae, stillataque sole rigescunt de ramis electra novis, quae lucidus amnis excipit et nuribus mittit gestanda Latinis. | (356) Was soll die Mutter tun, außer hierhin und dorthin zu gehen, wohin es sie drängt, und Küsse zu geben, solange es noch möglich ist? Nicht genug damit: Sie versucht, die Körper von den Baumstämmen loszureißen und bricht zarte Zweige mit den Händen ab; von dort fließen Blutstropfen wie aus einer Wunde. Lass es bitte, Mutter! ruft jede, die dabei verletzt wird. Lass es! Unser Leib wird mit dem Baum zerrissen. Und weiter: Leb wohl. Über die letzten Worte wächst die Rinde. Tränen fließen von dort. Was von den Zweigen getropft ist, erstarrt in der Sonne zu Bernstein. Ihn nimmt der klare Fluss auf und sendet ihn zu den jungen latinischen Frauen, damit sie ihn (als Schmuck) tragen. |
(367) Adfuit huic monstro proles Stheneleia Cycnus, qui tibi materno quamvis a sanguine iunctus, mente tamen, Phaethon, propior fuit. ille relicto (nam Ligurum populos et magnas rexerat urbes) imperio ripas virides amnemque querellis Eridanum inplerat silvamque sororibus auctam, cum vox est tenuata viro canaeque capillos dissimulant plumae collumque a pectore longe porrigitur digitosque ligat iunctura rubentis, penna latus velat, tenet os sine acumine rostrum. | (367) Bei dieser Ungeheuerlichkeit war Cygnus dabei, der Sohn des Sthenelos, der mit dir, Phaeton, über das Blut der Mutter verbunden war, aber noch näher dir im Geiste. Er hatte sein Reich verlassen, (denn er herrschte über die Völker und die großen Städte der Ligurer) und erfüllte den Eridanus und seine grünen Ufer, sowie den um seine Schwestern vermehrten Wald mit Klagegesängen. Da wird dem Mann plötzlich seine Stimme schwach und weiße Federn verbergen die Haare und der Hals streckt sich weit aus der Brust empor und rote Schwimmhäute verbinden die Zehen. Ein Federkleid bedeckt den Körper und das Gesicht bekommt einen Schnabel ohne Spitze. |
(377) fit nova Cycnus avis nec se caeloque Iovique credit, ut iniuste missi memor ignis ab illo; stagna petit patulosque lacus ignemque perosus quae colat elegit contraria flumina flammis. | (377) Cygnus wird zu einem neuartigen Vogel. Er vertraut sich weder dem Himmel noch Jupiter an, als erinnerte er sich des Feuers, das von diesem zu Unrecht geschickt worden war; (vielmehr) sucht er Teiche auf und weite Gewässer und hasst das Feuer; er wählt Flüsse, die er bewohnt, als Gegenteil zu den Flammen. |
(381) Squalidus interea genitor Phaethontis et expers ipse sui decoris, qualis, cum deficit orbem, esse solet, lucemque odit seque ipse diemque datque animum in luctus et luctibus adicit iram officiumque negat mundo. ‘satis’ inquit ‘ab aevi sors mea principiis fuit inrequieta, pigetque actorum sine fine mihi, sine honore laborum! | (381) Phaetons Vater indessen, in Trauerkleidung, sogar ohne seinen Schmuck, mit einer Scheibe, wie sie zu sein pflegt, wenn sie verfinstert ist, hasst das Licht, sich selbst und den Tag, gibt seinen Geist der Trauer hin und fügt der Trauer noch Zorn hinzu und verweigert der Welt seinen Dienst. Von Anbeginn der Zeit an ist mein Amt ruhelos genug gewesen, sprach er, und es verdrießt mich der Tätigkeiten, die für mich kein Ende haben und der Arbeiten, die mir ohne Lohn bleiben. |
(388) quilibet alter agat portantes lumina currus! si nemo est omnesque dei non posse fatentur, ipse agat ut saltem, dum nostras temptat habenas, orbatura patres aliquando fulmina ponat! tum sciet ignipedum vires expertus equorum non meruisse necem, qui non bene rexerit illos.’ | (388) Soll doch irgendein anderer den Wagen führen, der die Lampen trägt. Wenn es niemanden gibt und alle Götter eingestehen, dass sie es nicht können, soll der Herr es selbst tun, damit er wenigstens einmal, während er sich an unseren Zügeln versucht, die Blitze weglegt, die Väter ihrer Kinder berauben. Dann wird er wissen – hat er erst die Kräfte der flammenfüßigen Pferde erfahren – dass keiner, der sie nicht gut lenkte, den Tod verdient hat. |
(394) Talia dicentem circumstant omnia Solem numina, neve velit tenebras inducere rebus, supplice voce rogant; missos quoque Iuppiter ignes excusat precibusque minas regaliter addit. colligit amentes et adhuc terrore paventes Phoebus equos stimuloque dolens et verbere saevit (saevit enim) natumque obiectat et inputat illis | (394) Alle Götter umstehen den Sonnengott, der so spricht; sie bitten ihn mit flehender Stimme, er wolle nicht Finsternis über die Welt bringen. Auch Jupiter entschuldigt sich dafür, dass er das Feuer geschickt hat, fügt aber nach Königsart seinen Bitten Drohungen hinzu. Der traurige Phoebus sucht die kopflosen und immer noch vor Schreck bebenden Pferde zusammen, wütet mit Sporn und Peitsche (er ist nämlich wütend), wirft ihnen das mit seinem Sohn vor und rechnet es ihnen als Schuld an. |
Kapitelübersicht
- Metamorphosen II
- Ovid: Metamorphosen II: 1-149
- Ovid: Metamorphosen II: 150-300
- Ovid: Metamorphosen II: 301-400
- Ovid: Metamorphosen II: 401-532
- Ovid: Metamorphosen II: 533-549
- Ovid: Metamorphosen II: 550-595
- Ovid: Metamorphosen II: 596-632
- Ovid: Metamorphosen II: 633-675
- Ovid: Metamorphosen II: 676-707
- Ovid: Metamorphosen II: 708-832
- Ovid: Metamorphosen II: 833-875