Ovid, Buch II: Metamorphosen 401-532 (Deutsche Übersetzung) – Jupiter und Callisto
Lateinischer Text | Übersetzung |
(401) At pater omnipotens ingentia moenia caeli circuit et, ne quid labefactum viribus ignis corruat, explorat. quae postquam firma suique roboris esse videt, terras hominumque labores perspicit. Arcadiae tamen est inpensior illi cura suae: fontesque et nondum audentia labi flumina restituit, dat terrae gramina, frondes arboribus, laesasque iubet revirescere silvas. | (401) Der allmächtige Vater geht um den riesigen Palast des Himmels herum und prüft, ob nicht etwas einstürzen kann, das durch die Kräfte des Feuers ins Wanken gebracht wurde. Als er sieht, dass er aus eigener Kraft sicher steht, besichtigt er die Länder und die Werke der Menschen; die Sorge um sein Arkadien ist ihm freilich die dringendste: Quellen und Flüsse, die noch nicht kühn dahinströmen, stellt er wieder her, er gibt der Erde Pflanzen, den Bäumen Laub und läßt die zerstörten Wälder wieder grün werden. |
(409) dum redit itque frequens, in virgine Nonacrina haesit, et accepti caluere sub ossibus ignes. non erat huius opus lanam mollire trahendo nec positu variare comas; ubi fibula vestem, vitta coercuerat neglectos alba capillos; et modo leve manu iaculum, modo sumpserat arcum, miles erat Phoebes: nec Maenalon attigit ulla gratior hac Triviae; sed nulla potentia longa est. | (409) Während er ständig hin und her lief, blieb er an einer Jungfrau aus Arkadien hängen, geriet in Feuer und erglühte bis unter die Knochen. Es war nicht ihre Sache, die Wolle durch Spinnen weich zu machen oder die Haare ständig neu zu frisieren. Sobald eine Fibel ihr Gewand, ein weißes Band ihr ungebändigtes Haar zusammenhielt, nahm sie bald den leichten Speer, bald den Bogen in die Hand: Sie war eine Soldatin der Phoebe (Diana). Keine, die zum Mänalus (Gebirge in Arkadien) kam, war Trivia (anderer Name Dianas) lieber; doch kein Einfluß ist von Dauer. |
(417) Ulterius medio spatium sol altus habebat, cum subit illa nemus, quod nulla ceciderat aetas; exuit hic umero pharetram lentosque retendit arcus inque solo, quod texerat herba, iacebat et pictam posita pharetram cervice premebat. Iuppiter ut vidit fessam et custode vacantem, ‘hoc certe furtum coniunx mea nesciet’ inquit, ‘aut si rescierit, sunt, o sunt iurgia tanti!’ | (417) Über die Mitte (ihrer Bahn) hinaus hatte die hochstehende Sonne ihren Platz eingenommen (es war also kurz nach Mittag), als sie (Callisto) einen Wald betrat, der noch nie gefällt worden war. Hier nahm sie den Köcher von der Schulter, entspannte den geschmeidigen Bogen, legte sich auf den Boden, den das Gras bedeckt hatte und legte ihren Nacken auf den bunt bemalten Köcher. Als Jupiter sie dort erschöpft und unbewacht sah, sprach er: Von dieser Affäre wird meine Frau sicher nichts bemerken. Wenn sie es aber doch mitbekommt, gibt es ordentlichen Zank. |
(425) protinus induitur faciem cultumque Dianae atque ait: ‘o comitum, virgo, pars una mearum, in quibus es venata iugis?’ de caespite virgo se levat et ‘salve numen, me iudice’ dixit, ‘audiat ipse licet, maius Iove.’ ridet et audit et sibi praeferri se gaudet et oscula iungit, nec moderata satis nec sic a virgine danda. qua venata foret silva, narrare parantem inpedit amplexu nec se sine crimine prodit. | (425) Sogleich nimmt er Gestalt und Kleidung der Diana an und spricht: O Jungfrau, du einzigartige von meinen Gefährtinnen, auf welchen Bergen hast du gejagt? Das Mädchen erhebt sich von der Wiese und spricht: Sei gegrüßt, Göttin, nach meiner Meinung wichtiger als Jupiter, er mag es selbst hören. Er lacht und hört es an und hat seinen Spaß, das er sich selbst vorgezogen wird und fügt Kuss an Kuss, weder maßvoll noch so, wie sie einer Jungfrau anstehen. Als sie berichten will, in welchem Wald sie jagen wolle, hindert er sie durch eine Umarmung und gibt sich zu erkennen, nicht ohne sich an ihr zu vergehen. |
(434) illa quidem contra, quantum modo femina posset (adspiceres utinam, Saturnia, mitior esses), illa quidem pugnat, sed quem superare puella, quisve Iovem poterat? superum petit aethera victor Iuppiter: huic odio nemus est et conscia silva; unde pedem referens paene est oblita pharetram tollere cum telis et quem suspenderat arcum. Ecce, suo comitata choro Dictynna per altum Maenalon ingrediens et caede superba ferarum adspicit hanc visamque vocat: clamata refugit et timuit primo, ne Iuppiter esset in illa; sed postquam pariter nymphas incedere vidit, sensit abesse dolos numerumque accessit ad harum. | (434) Sie aber wehrte sich dagegen, wie sich eine Frau nur wehren kann – hättest du es gesehen, Saturnia (Juno), wärst du gnädiger – wen aber könnte ein Mädchen, wer könnte Jupiter überwinden? Jupiter fährt als Sieger hoch in den Himmel empor; ihr aber sind der Hain und Wald als Mitwisser verhaßt. Dort, von wo sie zurückkehrt, vergißt sie fast ihren Köcher mit den Pfeilen und den Bogen, den sie dort hingehängt hatte. Sieh! Da schreitet Dictynna (Diana) begleitet von ihrer Schar über den hohen Mänalus einher, erblickt sie, stolz auf das Abschlachten der Tiere, und ruft sie, nachdem sie sie gesehen hat. Die Gerufene weicht zurück und fürchtet zunächst, dass schon wieder Jupiter in dieser steckt. Nachdem sie aber sah, dass sie zusammen mit den Nymphen kam, merkte sie, dass keine List im Spiel war und schloss sich ihrer Schar an. |
(447) heu! quam difficile est crimen non prodere vultu! vix oculos attollit humo nec, ut ante solebat, iuncta deae lateri nec toto est agmine prima, sed silet et laesi dat signa rubore pudoris; et, nisi quod virgo est, poterat sentire Diana mille notis culpam: nymphae sensisse feruntur. | (447) Ach, wie schwierig ist es, ein Vergehen nicht durch sein Mienenspiel zu verraten. Kaum hebt sie den Blick vom Boden noch bleibt sie, wie sonst, der Göttin zur Seite und ist ganz vorn an der Spitze der Schar. Vielmehr schweigt sie und zeigt durch Erröten, daß ihre Keuschheit verletzt worden ist. Wäre Diana keine Jungfrau, hätte sie ihre Schuld an tausend Anzeichen erkennen können; die Nymphen aber sollen es gespürt haben. |
(453) orbe resurgebant lunaria cornua nono, cum de venatu fraternis languida flammis, nacta nemus gelidum dea, quo cum murmure labens ibat et attritas versabat rivus harenas. ut loca laudavit, summas pede contigit undas; his quoque laudatis ‘procul est’ ait ‘arbiter omnis: nuda superfusis tinguamus corpora lymphis!’ | (453) Die Hörner des Mondes vollendeten ihr Rund zum neuntenmal, als die Jagdgöttin, ermattet von den brüderlichen Gluten (also der Sonnenhitze, Diana ist die Zwillingsschwester des Phoebus) an einen kühlen Hain gelangte, aus welchem murmelnd ein Bach dahinfloß und feingemahlenen Sand mit sich führte. Sowie sie den Platz für gut befand, berührte sie mit dem Fuß die Wasseroberfläche, pries auch das Wasser und sprach: Es ist kein Augenzeuge in der Nähe: laßt uns unsere nackten Körper hineintauchen und von den Wassern umspülen. |
(460) Parrhasis erubuit; cunctae velamina ponunt; una moras quaerit: dubitanti vestis adempta est, qua posita nudo patuit cum corpore crimen. attonitae manibusque uterum celare volenti ‘i procul hinc’ dixit ‘nec sacros pollue fontis!’ Cynthia deque suo iussit secedere coetu. | (460) Die Parrhasierin (Callisto) errötete; alle legen ihre Gewänder ab, eine nur zögert; man nahm der Zögernden die Kleidung ab. Als sie abgelegt war, wurde die Schuld zusammen mit dem entblößten Körper sichtbar. Als sie wie betäubt den Unterleib mit den Händen bedecken wollte, sprach Cynthia (Diana): Geh weg von hier und besudele nicht die heiligen Quellen, und sie befahl ihr, sich von ihrem Gefolge fernzuhalten. |
(466) Senserat hoc olim magni matrona Tonantis distuleratque graves in idonea tempora poenas. causa morae nulla est, et iam puer Arcas (id ipsum indoluit Iuno) fuerat de paelice natus. quo simul obvertit saevam cum lumine mentem, ‘scilicet hoc etiam restabat, adultera’ dixit, ‘ut fecunda fores, fieretque iniuria partu nota, Iovisque mei testatum dedecus esset. haud inpune feres: adimam tibi namque figuram, qua tibi, quaque places nostro, inportuna, marito.’ | (466) Die edle Frau des großen Donnerers hatte es schon längst bemerkt und eine schwere Bestrafung auf einen geeigneten Zeitpunkt verschoben. Für weiteren Aufschub gibt es keinen Grund; schon ist ein Knabe namens Arcas von der Geliebten geboren worden (gerade das schmerzte Juno). Auf diesen wandte sie ihr Auge und zugleich ihren wütenden Sinn. Das fehlte gerade noch, du Buhle, sprach sie, dass du fruchtbar wirst und die Übertretung durch die Geburt bekannt und die Schandtat meines Jupiter öffentlich wird. Dessen rühmst du dich nicht ungestraft; wahrlich, ich werde dir die Gestalt nehmen, die dir lästig ist und in der du unserem Gemahl gefällst. |
(476) dixit et adversam prensis a fronte capillis stravit humi pronam. tendebat bracchia supplex: bracchia coeperunt nigris horrescere villis curvarique manus et aduncos crescere in unguis officioque pedum fungi laudataque quondam ora Iovi lato fieri deformia rictu. neve preces animos et verba precantia flectant, posse loqui eripitur: vox iracunda minaxque plenaque terroris rauco de gutture fertur; | (476) Sie sprach’s, faßte sie vorn an der Stirn bei den Haaren und streckte sie vornüber zu Boden; flehend versuchte diese, die Arme auszustrecken, die Arme begannen von schwarzen zotteligen Haaren rauh zu werden, die Hände begannen, sich zu krümmen und zu gebogenen Krallen anzuwachsen und die Aufgabe von Füßen zu erledigen; das von Zeus einst so gepriesene Antlitz wurde durch ein breites Maul entstellt. Damit keine Bitten, keine flehenden Worte die Herzen umstimmen können, wird ihr das Sprechvermögen genommen: Zorniges und drohendes Gebrumm voll von Schrecken dringt aus heiserer Kehle hervor. |
(485) mens antiqua tamen facta quoque mansit in ursa, adsiduoque suos gemitu testata dolores qualescumque manus ad caelum et sidera tollit ingratumque Iovem, nequeat cum dicere, sentit. a! quotiens, sola non ausa quiescere silva, ante domum quondamque suis erravit in agris! a! quotiens per saxa canum latratibus acta est venatrixque metu venantum territa fugit! saepe feris latuit visis, oblita quid esset, ursaque conspectos in montibus horruit ursos pertimuitque lupos, quamvis pater esset in illis. | (485) Auch wenn sie zu einer Bärin umgewandelt worden war, blieb ihr das alte Gemüt. Unter ständigem Stöhnen als Beweis ihrer Qualen hebt sie die wie auch immer gearteten Hände zum Himmel und zu den Sternen und denkt – aussprechen kann sie es nicht – dass Jupiter undankbar ist. Ach, wie oft wagte sie nicht, allein im Wald zu ruhen, und irrte vor ihrem einstigen Zuhause und auf ihren Äckern umher. Ach, wie oft wurde sie vom Gebell der Hunde über die Steine gescheucht und floh als erschrockene Jägerin aus Furcht vor den Jägern. Oft verbarg sie sich, wenn sie wilde Tiere sah, und vergaß dabei, wer sie war; der Anblick von Bären im Gebirge erschreckte die Bärin und sie fürchtete sich sehr vor den Wölfen, obwohl auch ihr Vater zu diesen gehörte. |
(496) Ecce Lycaoniae proles ignara parentis, Arcas adest ter quinque fere natalibus actis; dumque feras sequitur, dum saltus eligit aptos nexilibusque plagis silvas Erymanthidas ambit, incidit in matrem, quae restitit Arcade viso et cognoscenti similis fuit: ille refugit inmotosque oculos in se sine fine tenentem nescius extimuit propiusque accedere aventi vulnifico fuerat fixurus pectora telo: arcuit omnipotens pariterque ipsosque nefasque sustulit et pariter raptos per inania vento inposuit caelo vicinaque sidera fecit. | (496) Sieh, da naht Arcas. Er ist fast 15 Jahre alt und kennt die Mutter nicht, die von Lycaon abstammt. Während er wilden Tieren nachstellt, geeignete Wälder aussucht und die erymanthischen Wälder mit geknüpften Netzen umgibt, trifft er auf seine Mutter. Als sie Arcas gesehen hatte, blieb sie stehen und wirkte, als würde sie ihn erkennen. Der wich zurück und fürchtete sich sehr, weil er die, die ihn unablässig mit starrem Blick ansah, nicht erkannte. Er war dabei, ihr, die sich ihm nähern wollte, mit einem wundenreißenden Wurfgeschoß die Brust zu durchbohren. Das verwehrte der Allmächtige, hob die beiden hoch und gleichzeitig die Untat auf. Er versetzte sie, nachdem sie gleichzeitig von einem Windstoß erfaßt worden waren, durch den leeren Raum an den Himmel und machte sie zu benachbarten Sternbildern (großer und kleiner Bär). |
(508) Intumuit Iuno, postquam inter sidera paelex fulsit, et ad canam descendit in aequora Tethyn Oceanumque senem, quorum reverentia movit saepe deos, causamque viae scitantibus infit: ‘quaeritis, aetheriis quare regina deorum sedibus huc adsim? pro me tenet altera caelum! mentior, obscurum nisi nox cum fecerit orbem, nuper honoratas summo, mea vulnera, caelo videritis stellas illic, ubi circulus axem ultimus extremum spatioque brevissimus ambit. et vero quisquam Iunonem laedere nolit offensamque tremat, quae prosum sola nocendo? | (508) Juno wurde zornig, nachdem die Rivalin zwischen den Gestirnen aufgestrahlt war, und sie stieg ins Meer hinab zur ergrauten Tethys und zum greisen Oceanus, denen die Götter schon oft mit Respekt begegnet waren. Sie begann, den Grund ihrer Reise zu erklären, als sie danach fragten. Ihr wollt wissen, warum die Königin der Götter von ihrem himmlischen Wohnsitz hierher kommt? An meiner Stelle besetzt eine andere den Himmel. Ich will eine Lügnerin sein, wenn ihr nicht, sobald die Nacht die Welt in Dunkelheit getaucht hat, am Himmel nicht die kürzlich zu Ehren gekommenen Sterne erblickt, die die Auslöser meines Seelenschmerzes sind. Sie befinden sich dort, wo der letzte Kreis mit seiner Bahn den obersten Pol in kürzester Zeit umläuft (in der Nähe des Polarsterns, Sternbild kleiner Bär). Gibt es noch einen Grund, warum man Juno nicht verletzen sollte und die Beleidigte fürchten? Ich nütze doch nur, wo ich schaden will. |
(520) o ego quantum egi! quam vasta potentia nostra est! esse hominem vetui: facta est dea! sic ego poenas sontibus inpono, sic est mea magna potestas! vindicet antiquam faciem vultusque ferinos detrahat, Argolica quod in ante Phoronide fecit cur non et pulsa ducit Iunone meoque collocat in thalamo socerumque Lycaona sumit? at vos si laesae tangit contemptus alumnae, gurgite caeruleo septem prohibete triones sideraque in caelo stupri mercede recepta pellite, ne puro tinguatur in aequore paelex!’ | (520) O, wieviel habe ich erreicht! Wie gewaltig ist unsere Macht! Ich verwehrte es ihr, Mensch zu sein: sie wurde zu einer Göttin. So bestrafe ich die Schuldigen, so groß ist meine Macht! Soll er ihr doch ihr altes Aussehen verschaffen und die tierische Fratze herunterreißen, wie er es einst bei Phoronis aus Argolis tat. Warum heiratet er sie nicht, nachdem er Juno verstoßen hat, legt sie an meiner Stelle ins Ehebett und nimmt den Lycaon als Schwiegervater? Ihr aber, so euch die Verachtung eurer gekränkten Pflegetochter rührt, verwehrt den sieben Dreschochsen (der große Wagen, die sieben Hauptsterne des Sternbildes großer Bär) die blaue Meerestiefe. Verjagt die Sterne, die als Lohn für ihren Ehebruch in den Himmel aufgenommen wurden, damit die Buhle sich nicht in dem reinen Meer badet. (Die Sternbilder großer und kleiner Bär sind auch noch für Rom zirkumpolar, der große Bär zumindest zum größten Teil, das heißt, sie sinken niemals unter den Horizont, tauchen niemals scheinbar ins Meer.) Die Götter des Meeres nickten dazu. Im leicht zu lenkenden Wagen fährt Saturnia (Juno) in den strahlenden Himmel mit ihren bunten Pfauen. |
Kapitelübersicht
- Metamorphosen II
- Ovid: Metamorphosen II: 1-149
- Ovid: Metamorphosen II: 150-300
- Ovid: Metamorphosen II: 301-400
- Ovid: Metamorphosen II: 401-532
- Ovid: Metamorphosen II: 533-549
- Ovid: Metamorphosen II: 550-595
- Ovid: Metamorphosen II: 596-632
- Ovid: Metamorphosen II: 633-675
- Ovid: Metamorphosen II: 676-707
- Ovid: Metamorphosen II: 708-832
- Ovid: Metamorphosen II: 833-875