Ovid, Buch II: Metamorphosen 633-675 (Deutsche Übersetzung) – Ocryoe
Lateinischer Text | Übersetzung |
(633) Semifer interea divinae stirpis alumno laetus erat mixtoque oneri gaudebat honore; ecce venit rutilis umeros protecta capillis filia centauri, quam quondam nympha Chariclo fluminis in rapidi ripis enixa vocavit Ocyroen: non haec artes contenta paternas edidicisse fuit, fatorum arcana canebat. ergo ubi vaticinos concepit mente furores incaluitque deo, quem clausum pectore habebat, adspicit infantem ‘toto’ que ‘salutifer orbi cresce, puer!’ dixit; ‘tibi se mortalia saepe corpora debebunt, animas tibi reddere ademptas fas erit, idque semel dis indignantibus ausus posse dare hoc iterum flamma prohibebere avita, eque deo corpus fies exsangue deusque, qui modo corpus eras, et bis tua fata novabis. | (633) Unterdessen war das Mischwesen froh über den Zögling von göttlicher Herkunft und freute sich über die Ehre, die mit der Aufgabe verbunden war. Sieh, da kommt die Tochter des Zentauren, die Schultern bedeckt mit rötlichen Haaren; einst hatte die Nymphe Chariclo sie an den Ufern eines reißenden Flusses geboren und sie Ocyroe genannt. Nicht zufrieden damit, die väterlichen Künste gelernt zu haben, verkündete sie die Geheimnisse des Schicksals. Sobald sie also im Geist in prophetische Ekstase geriet, entbrannte sie in Leidenschaft zu dem Gott, den sie in ihrer Brust verschlossen hatte. Sie sah das Kind an und sprach: Wachse heran, Knabe, als Heilsbringer für die ganze Welt; sterbliche Leiber werden dir oft ihr Leben zu verdanken haben. Das Schicksal wird dir oft die entrissenen Seelen zurückgeben. Einmal wirst du es zur Entrüstung der Götter wagen und die großväterliche Flamme wird dich daran hindern, dies ein zweites Mal schenken zu können und aus dir als einem Gott wird ein blutleerer Körper werden und aus dir, der nur noch Körper war, wieder ein Gott. So wirst du dein Schicksal zweimal erneuern. |
(649) tu quoque, care pater, nunc inmortalis et aevis omnibus ut maneas nascendi lege creatus, posse mori cupies, tum cum cruciabere dirae sanguine serpentis per saucia membra recepto; teque ex aeterno patientem numina mortis efficient, triplicesque deae tua fila resolvent.’ restabat fatis aliquid: suspirat ab imis pectoribus, lacrimaeque genis labuntur obortae, atque ita ‘praevertunt’ inquit ‘me fata, vetorque plura loqui, vocisque meae praecluditur usus. non fuerant artes tanti, quae numinis iram contraxere mihi: mallem nescisse futura! | (649) Auch du, lieber Vater, jetzt unsterblich und nach dem Recht deiner Geburt dazu geschaffen, in Ewigkeit zu bleiben, wirst dir dann wünschen, sterben zu können, wenn du dich quälst, weil das Blut der grässlichen Schlange von deinen verwundeten Glieder aufgenommen wurde. Die Götter werden aus dir, der du ewig bist, jemanden machen, der den Tod erleidet, und die drei Parzen werden deine Schicksalsfäden auflösen. Etwas von dem Orakelspruch blieb noch übrig: sie seufzt aus tiefer Brust, Tränen schießen hervor und rinnen über die Wangen und sie spricht: Das Schicksal kommt mir zuvor und ich darf nichts weitersagen und der Gebrauch meiner Stimme ist mir verwehrt. So viel hatten die Künste nicht gegolten, die mir den Zorn der Gottheit zugezogen haben; mir wäre lieber, ich hätte die Zukunft nicht gekannt. |
(661) iam mihi subduci facies humana videtur, iam cibus herba placet, iam latis currere campis impetus est: in equam cognataque corpora vertor. tota tamen quare? pater est mihi nempe biformis.’ talia dicenti pars est extrema querellae intellecta parum confusaque verba fuerunt; mox nec verba quidem nec equae sonus ille videtur sed simulantis equam, parvoque in tempore certos edidit hinnitus et bracchia movit in herbas. | (661) Schon scheint mir das menschliche Antlitz zu schwinden, schon möchte ich Gras als Speise, schon drängt es mich, über die weiten Felder zu laufen: ich verwandle mich in eine Stute, eine mir verwandte Gestalt. Warum aber völlig? Mein Vater ist doch auch zwiegestaltig. Solches spricht sie, doch der letzte Teil ihrer Klage ist kaum zu verstehen, die Worte waren durcheinandergeraten. Bald sind es keine Worte mehr, sondern es scheint sich um das Gewieher eines Pferdes zu handeln, von jemandem, der eine Stute nachahmt; nach kurzer Zeit aber brachte sie richtiges Gewieher hervor und bewegte ihre Arme durch das Gras. |
(670) tum digiti coeunt et quinos alligat ungues perpetuo cornu levis ungula, crescit et oris et colli spatium, longae pars maxima pallae cauda fit, utque vagi crines per colla iacebant, in dextras abiere iubas, pariterque novata est et vox et facies; nomen quoque monstra dedere. | (670) Darauf wachsen die Finger zusammen. Jeweils fünf Zehennägel bindet ein glatter Huf mit einer zusammenhängenden Hornschicht zusammen. Mund und Hals nehmen größeren Raum ein, der größte Teil des langen Umhangs wird zu einem Schweif und wo das lose Haar vom Kragen herabwallte, verwandelte es sich in eine Mähne zur Rechten; dies Götterzeichen gab ihr auch den Namen (nämlich Hippe bzw. Hippo, griechisch: Pferd). |
Kapitelübersicht
- Metamorphosen II
- Ovid: Metamorphosen II: 1-149
- Ovid: Metamorphosen II: 150-300
- Ovid: Metamorphosen II: 301-400
- Ovid: Metamorphosen II: 401-532
- Ovid: Metamorphosen II: 533-549
- Ovid: Metamorphosen II: 550-595
- Ovid: Metamorphosen II: 596-632
- Ovid: Metamorphosen II: 633-675
- Ovid: Metamorphosen II: 676-707
- Ovid: Metamorphosen II: 708-832
- Ovid: Metamorphosen II: 833-875