Ovid, Buch II: Metamorphosen 550-595 (Deutsche Übersetzung) – Die Krähe – Nyctimene
Lateinischer Text | Übersetzung |
[…] (550) ne sperne meae praesagia linguae! quid fuerim quid simque vide meritumque require: invenies nocuisse fidem. nam tempore quodam Pallas Ericthonium, prolem sine matre creatam, clauserat Actaeo texta de vimine cista virginibusque tribus gemino de Cecrope natis et legem dederat, sua ne secreta viderent. abdita fronde levi densa speculabar ab ulmo, quid facerent: commissa duae sine fraude tuentur, Pandrosos atque Herse; timidas vocat una sorores Aglauros nodosque manu diducit, et intus infantemque vident adporrectumque draconem. | (550) Verachte nicht die Weissagungen meiner Zunge. Sieh, was ich war und was ich bin und frage nach dem Lohn; du wirst erfahren, daß mir meine Ehrlichkeit geschadet hat. Denn zu einer bestimmten Zeit hatte Pallas (Minerva) den Erichthonius, (Sohn des Vulkan, der entstand, als Vulkan der Minerva nachstellte und sein Samen auf die Erde fiel) ein Kind, das ohne Mutter entstanden war, in einen Korb aus attischer Weide eingeschlossen und ihn drei Jungfrauen, die dem doppelgestaltigen Cecrops (halb Mensch, halb Schlange), geboren worden waren, mit der Auflage übergeben, daß sie ihr (Minervas) Geheimnis niemals anschauen sollten. Verborgen unter dem leichten Blattwerk einer dichtbelaubten Ulme versuchte ich auszukundschaften, was sie tun würden: Zwei – Pandrosus und Herse – bewachen das Anvertraute ohne Falsch; eine aber, Aglauros, nennt die Schwestern feige, lockert die Knoten mit der Hand und sie sehen darin ein Kind und daneben hingestreckt eine Schlange. |
(562) acta deae refero. pro quo mihi gratia talis redditur, ut dicar tutela pulsa Minervae et ponar post noctis avem! mea poena volucres admonuisse potest, ne voce pericula quaerant. at, puto, non ultro nequiquam tale rogantem me petiit! – ipsa licet hoc a Pallade quaeras: quamvis irata est, non hoc irata negabit. | (562) Ich berichte der Göttin, was geschehen ist; dafür stattet sie mir einen solchen Dank ab, dass man mich die verstoßene Beschützerin der Minerva nennt und noch hinter einem Nachtvogel einreiht. Meine Strafe mag die Vögel ermahnt haben, durch ihre Stimme kein Risiko einzugehen. Ich meine aber, sie hat mich aufgesucht, ohne dass ich von selbst nach so etwas gefragt hätte – du kannst Pallas ruhig selbst danach fragen: Auch wenn sie zornig ist, wird sie das auch im Zorn nicht leugnen. |
(569) nam me Phocaica clarus tellure Coroneus (nota loquor) genuit, fueramque ego regia virgo divitibusque procis (ne me contemne) petebar: forma mihi nocuit. nam cum per litora lentis passibus, ut soleo, summa spatiarer harena, vidit et incaluit pelagi deus, utque precando tempora cum blandis absumpsit inania verbis, vim parat et sequitur. fugio densumque relinquo litus et in molli nequiquam lassor harena. | (569) Denn mich hat Coroneus (König von Phocis) gezeugt, der im Gebiet von Phocis berühmt war, (ich berichte bekannte Tatsachen) und ich war eine königliche Jungfrau, wurde von reichen Freiern umworben (damit du mich nicht geringschätzt); meine Schönheit war mir schädlich. Denn als ich am Strand langsamen Schrittes über den Sand ganz am Rand spazierte, wie ich es zu tun pflegte, erblickte mich der Meeresgott und geriet in Erregung. Als er viel unnütze Zeit durch das Betteln mit schmeichelnden Worten vertan hat, will er Gewalt anwenden und folgt mir. Ich fliehe und verlasse den dichten Strand (gemeint ist der Teil des Sandstrandes nah am Wasser, in dem der Sand dicht gepackt ist, so daß man wie auf einem festen Weg laufen kann) und mache mich vergeblich im weichen Sand müde. |
(578) inde deos hominesque voco; nec contigit ullum vox mea mortalem: mota est pro virgine virgo auxiliumque tulit. tendebam bracchia caelo: bracchia coeperunt levibus nigrescere pennis; reicere ex umeris vestem molibar, at illa pluma erat inque cutem radices egerat imas; plangere nuda meis conabar pectora palmis, sed neque iam palmas nec pectora nuda gerebam; currebam, nec, ut ante, pedes retinebat harena, sed summa tollebar humo; mox alta per auras evehor et data sum comes inculpata Minervae. | (578) Von dort aus rufe ich nach Göttern und Menschen, aber meine Stimme erreicht keinen Sterblichen. Die Jungfrau (Minerva) ließ sich zugunsten der Jungfrau bewegen und brachte Hilfe. Ich streckte die Arme zum Himmel aus, die Arme begannen von leichten Federn schwarz zu werden. Ich wollte das Kleid von den Schultern abstreifen, aber es war Flaum und hatte innen in der Haut Wurzeln geschlagen. Ich versuchte, mit meinen Handflächen auf die nackten Brüste zu schlagen, aber ich hatte schon keine Handflächen und keine nackten Brüste mehr; ich eilte fort, und der Sand hemmte mich nicht wie vorher an den Füßen, sondern ich wurde immer höher vom Boden aufgehoben. In Bewegung gesetzt wurde ich bald durch die Lüfte emporgezogen und ich wurde der Minerva zur unbescholtenen Begleiterin gegeben. |
(589) quid tamen hoc prodest, si diro facta volucris crimine Nyctimene nostro successit honori? an quae per totam res est notissima Lesbon, non audita tibi est, patrium temerasse cubile Nyctimenen? avis illa quidem, sed conscia culpae conspectum lucemque fugit tenebrisque pudorem celat et a cunctis expellitur aethere toto.’ | (589) Was freilich nützt das, wenn Nyctimene (Einwohnerin von Lesbos, die sexuelle Beziehungen zu ihrem Vater hatte und aus Strafe in eine Nachteule verwandelt wurde), durch ein abscheuliches Verbrechen zum Vogel gemacht, unsere Ehrenstellung einnimmt? Ist dir etwa nicht zu Ohren gekommen, was auf ganz Lesbos sattsam bekannt ist, dass Nyctimene das väterliche Ehebett entweiht hat? Natürlich ist sie jetzt ein Vogel, aber ihrer Schuld bewusst, flieht sie die Leute (conspectus u.a. gleich Versammlung) und das Licht, verbirgt ihre Schande im Dunkeln und wird von allen aus dem weiten Himmel verstoßen. |
Kapitelübersicht
- Metamorphosen II
- Ovid: Metamorphosen II: 1-149
- Ovid: Metamorphosen II: 150-300
- Ovid: Metamorphosen II: 301-400
- Ovid: Metamorphosen II: 401-532
- Ovid: Metamorphosen II: 533-549
- Ovid: Metamorphosen II: 550-595
- Ovid: Metamorphosen II: 596-632
- Ovid: Metamorphosen II: 633-675
- Ovid: Metamorphosen II: 676-707
- Ovid: Metamorphosen II: 708-832
- Ovid: Metamorphosen II: 833-875