Ovid, Buch II: Metamorphosen 708-832 (Deutsche Übersetzung) – Aglauros, Merkur und Herse
Lateinischer Text | Übersetzung |
(708) Hinc se sustulerat paribus caducifer alis, Munychiosque volans agros gratamque Minervae despectabat humum cultique arbusta Lycei. illa forte die castae de more puellae vertice supposito festas in Palladis arces pura coronatis portabant sacra canistris. inde revertentes deus adspicit ales iterque non agit in rectum, sed in orbem curvat eundem: | (708) Von hier aus hatte sich Caducifer (Beiname Merkurs: Der mit dem Stab) mit einem Paar Flügeln emporgeschwungen und sah im Flug auf die munychischen (athenischen) Felder und auf das Land, das der Minerva lieb war, herab, sowie auf die Baumgärten des gepflegten Lyzeums (Gymnasium, Sportstätte vor den Toren Athens mit vielbewunderten Gartenanlagen, spätere Wirkungsstätte des Aristoteles – natürlich nicht als Sportler, sondern als Philosoph). Eben an diesem Tag trugen dem Brauch gemäß keusche Mädchen die geweihten Opfergefäße auf ihren Häuptern (vertice subposito, wörtl.: nachdem der Kopf daruntergestellt worden war) in umkränzten Körben zu den festlich geschmückten Anhöhen der Pallas (Athene). Der geflügelte Gott erblickt sie, wie sie von dort zurückkehren und setzt seinen Flug nicht geradeaus fort, sondern schlägt eine Kreisbahn ein. |
(716) ut volucris visis rapidissima miluus extis, dum timet et densi circumstant sacra ministri, flectitur in gyrum nec longius audet abire spemque suam motis avidus circumvolat alis, sic super Actaeas agilis Cyllenius arces inclinat cursus et easdem circinat auras. quanto splendidior quam cetera sidera fulget Lucifer, et quanto quam Lucifer aurea Phoebe, tanto virginibus praestantior omnibus Herse ibat eratque decus pompae comitumque suarum. | (716) Wie ein Vogel, der stets auf Raub aus ist, ein Milan, im Kreis fliegt, nachdem er Eingeweide erspäht hat, und nicht wagt, weit wegzufliegen, während er die Diener scheut, die die Opfergaben dicht umstehen, und das Ziel seiner Hoffnung begierig mit rüttelnden Flügeln umkreist, so krümmt der Cyllener (Merkur) seine Flugbahn begierig über den attischen Höhen und zieht Kreise in der Luft. Um soviel, wie Luzifer (der Morgenstern), die anderen Gestirne überstrahlt und die goldene Phoebe wiederum Luzifer, um soviel prächtiger als alle Jungfrauen schritt Herse einher und war die Zierde des Festzuges und ihrer Begleiterinnen. |
(726) obstipuit forma Iove natus et aethere pendens non secus exarsit, quam cum Balearica plumbum funda iacit: volat illud et incandescit eundo et, quos non habuit, sub nubibus invenit ignes. vertit iter caeloque petit terrena relicto nec se dissimulat: tanta est fiducia formae. quae quamquam iusta est, cura tamen adiuvat illam permulcetque comas chlamydemque, ut pendeat apte, collocat, ut limbus totumque adpareat aurum, ut teres in dextra, qua somnos ducit et arcet, virga sit, ut tersis niteant talaria plantis | (726) Von ihrer Schönheit erstarrte der Jupitersproß, schwebte im Äther und entbrannte nicht anders, als wenn eine balearische Schleuder eine Bleikugel abschießt (die Bewohner der Baleareninseln Mallorca und Menorca waren in der Antike berühmt durch ihr Geschick beim Umgang mit der Schleuder): Sie fliegt und erglüht im Flug und findet das Feuer, das sie nicht besitzt, tief in den Wolken. Er kehrt um, strebt zur Erde, nachdem er den Himmel verlassen hat und verbirgt sich nicht; so sehr vertraut er auf seine Schönheit. Obwohl sie tadellos ist, hübscht er sie doch durch Kosmetik auf, streicht sich durchs Haar, ordnet den Mantel, damit er angemessen fällt, dass sich der Saum und alles Gold zeigt, dass der Stab in seiner Rechten, durch den er Traumbilder erzeugt und abwehrt, glatt ist und dass die Flügelschuhe an den sauberen Füßen glänzen. |
(737) Pars secreta domus ebore et testudine cultos tres habuit thalamos, quorum tu, Pandrose, dextrum, Aglauros laevum, medium possederat Herse. quae tenuit laevum, venientem prima notavit Mercurium nomenque dei scitarier ausa est et causam adventus; cui sic respondit Atlantis Pleionesque nepos ‘ego sum, qui iussa per auras verba patris porto; pater est mihi Iuppiter ipse. | (737) Der abgetrennte Bereich des Hauses hatte drei mit Elfenbein und Schildpatt geschmückte Schlafzimmer, von denen dir, Pandrosos, das rechte gehörte, Aglauros das linke und Herse das mittlere. Die das linke bewohnte, bemerkte als erste, wie Merkur hereinkam, und wagte, nach dem Namen des Gottes zu fragen und nach dem Grund seiner Ankunft. Er antwortete ihr: Ich bin der Enkel des Atlas und der Pleione (Hermes‘ Mutter war Maia, eine der Pleiaden, der Töchter des Atlas und der Pleione), der die mir anvertrauten Botschaften des Vaters durch die Lüfte befördert. Mein Vater ist Jupiter höchstpersönlich. |
(745) nec fingam causas, tu tantum fida sorori esse velis prolisque meae matertera dici: Herse causa viae; faveas oramus amanti.’ adspicit hunc oculis isdem, quibus abdita nuper viderat Aglauros flavae secreta Minervae, proque ministerio magni sibi ponderis aurum postulat: interea tectis excedere cogit. | (745) Ich will auch keine Ausreden suchen. Sei du nur deiner Schwester treu und lass dich die Tante meiner Nachkommen nennen. Herse ist der Grund meines Kommens; wir bitten darum, dass Du einem Liebenden gnädig bist. Aglauros blickte ihn mit denselben Augen an, mit denen sie erst kürzlich das verborgene Geheimnis der blonden Minerva (das Kind Erichthonius, das entstanden war, als Vulkan der Minerva nachstellte und sein Samen auf die Erde fiel) erspäht hatte, und forderte für sich eine Menge Gold für ihren Dienst; indessen drängte sie ihn, das Haus zu verlassen. |
(752) Vertit ad hanc torvi dea bellica luminis orbem et tanto penitus traxit suspiria motu, ut pariter pectus positamque in pectore forti aegida concuteret: subit, hanc arcana profana detexisse manu, tum cum sine matre creatam Lemnicolae stirpem contra data foedera vidit, et gratamque deo fore iam gratamque sorori et ditem sumpto, quod avara poposcerat, auro. | (752) Die kriegerische Göttin (Minerva) wirft auf diese (Aglauros) einen wütenden Blick und stößt mit so heftiger Bewegung Seufzer aus, dass sie zugleich mit ihrer Brust auch den Schild Aigis erschüttert, der eng an ihrer Brust anliegt. Es kommt ihr in den Sinn, dass diese damals mit unheiliger Hand ihr Geheimnis aufgedeckt hat, als sie entgegen der Abmachung den mutterlos entstandenen Sohn des Lemniers (Vulcan) sah, und dass ihr in Zukunft ein Gott – wie bereits ihre Schwester – verpflichtet sein würde und dass sie reich sei, sowie sie das Gold nahm, das sie habgierig gefordert hatte. |
(760) protinus Invidiae nigro squalentia tabo tecta petit: domus est imis in vallibus huius abdita, sole carens, non ulli pervia vento, tristis et ignavi plenissima frigoris et quae igne vacet semper, caligine semper abundet. huc ubi pervenit belli metuenda virago, constitit ante domum (neque enim succedere tectis fas habet) et postes extrema cuspide pulsat. concussae patuere fores. videt intus edentem vipereas carnes, vitiorum alimenta suorum, Invidiam visaque oculos avertit; at illa surgit humo pigre semesarumque relinquit corpora serpentum passuque incedit inerti. utque deam vidit formaque armisque decoram, ingemuit vultumque una ac suspiria duxit. | (760) Sofort suchte sie das von schwarzem Blut beschmutzte Haus der Missgunst auf. Deren Haus liegt verborgen mitten zwischen Tälern, ohne Sonne, keinem Wind zugänglich. Es ist traurig, erfüllt mit erstarrender Kälte, und was immer ihm an Feuer fehlt, quillt es über von schwarzem Rauch. Sobald die heldenhafte Jungfrau, schrecklich im Krieg, hier anlangte, blieb sie vor dem Haus stehen (sie hatte nämlich kein Recht, es zu betreten) und schlug mit der Lanzenspitze gegen die Torpfosten. Durch den Stoß taten sich die Türflügel auf und sie sah drinnen die Missgunst, wie sie Schlangenfleisch verspeiste, die Nahrung ihrer Boshaftigkeit. Als sie die Missgunst erblickte, wandte sie die Augen ab; jene aber erhebt sich träge vom Boden, lässt die halb aufgegessenen Schlangenkadaver liegen und schlurft trägen Schrittes heran. Sowie sie die Göttin in der Zierde ihrer Schönheit und ihrer Waffen sah, stöhnte sie und verzog ihr Gesicht mit tiefem Seufzen. |
(775) pallor in ore sedet, macies in corpore toto. nusquam recta acies, livent robigine dentes, pectora felle virent, lingua est suffusa veneno; risus abest, nisi quem visi movere dolores; nec fruitur somno, vigilantibus excita curis, sed videt ingratos intabescitque videndo successus hominum carpitque et carpitur una suppliciumque suum est. quamvis tamen oderat illam, talibus adfata est breviter Tritonia dictis: ‘infice tabe tua natarum Cecropis unam: sic opus est. Aglauros ea est.’ haud plura locuta fugit et inpressa tellurem reppulit hasta. | (775) Der Mund ist voll Moder, der Körper ist völlig ausgemergelt, nirgendwohin geht ein gerader Blick, die Zähne sind bläulich von Fäulnis, die Brüste sind grün von Galle, die Zunge ist getränkt von Gift. Das Lachen liegt ihr fern, wenn es nicht durch den Anblick eines vom Schmerz Gepeinigten ausgelöst wird. Gereizt durch Sorgen, die sie wachhalten, kennt sie auch keinen Schlaf, sondern starrt auf die Erfolge der Menschen, die ihr zuwider sind und verzehrt sich bei ihrem Anblick; sie zerfleischt und wird gleichzeitig selbst aufgefressen und ist ihre eigene Strafe. Obwohl sie voller Hass auf sie war, sprach Tritonia (Minerva) sie kurz mit folgenden Worten an: Benetze mit deinem Pesthauch eine der Töchter des Cecrops. So muss es sein: Es handelt sich um Aglauros. Ohne ein weiteres Wort eilt sie davon, rammt den Speer nach unten und stößt sich vom Boden ab. |
(787) Illa deam obliquo fugientem lumine cernens murmura parva dedit successurumque Minervae indoluit baculumque capit, quod spinea totum vincula cingebant, adopertaque nubibus atris, quacumque ingreditur, florentia proterit arva exuritque herbas et summa cacumina carpit adflatuque suo populos urbesque domosque polluit et tandem Tritonida conspicit arcem ingeniis opibusque et festa pace virentem vixque tenet lacrimas, quia nil lacrimabile cernit. | (787) Jene sah mit schiefem Auge die Göttin enteilen, gab leises Gemurmel von sich und empfand Schmerz darüber, dass Minerva Erfolg haben würde. Sie nahm den Stab, den ringsherum Dornenranken umgaben. Verhüllt durch schwarze Wolken, wo auch immer sie hingeht, zertrampelt sie blühende Landschaften, verbrennt die Wiesen, reißt die Mohnblüten ab. Mit ihrem Pesthauch vergiftet sie Völker, Städte und Häuser. Endlich erblickt sie die Burg der Tritonia (Minerva), reich an Talenten und Vermögen, wie sie in festlichem Frieden erblüht. Sie kann kaum die Tränen zurückhalten, weil sie nichts Beklagenswertes sieht. |
(797) sed postquam thalamos intravit Cecrope natae, iussa facit pectusque manu ferrugine tincta tangit et hamatis praecordia sentibus inplet inspiratque nocens virus piceumque per ossa dissipat et medio spargit pulmone venenum, neve mali causae spatium per latius errent, germanam ante oculos fortunatumque sororis coniugium pulchraque deum sub imagine ponit cunctaque magna facit; quibus inritata dolore Cecropis occulto mordetur et anxia nocte anxia luce gemit lentaque miserrima tabe liquitur, et glacies incerto saucia sole, felicisque bonis non lenius uritur Herses, quam cum spinosis ignis supponitur herbis, quae neque dant flammas lentoque vapore cremantur. | (797) Nachdem sie aber die Gemächer der Cecropstochter betreten hat, erledigt sie ihren Auftrag, berührt deren Brust mit ihrer schwarzgefärbten Hand und erfüllt ihr Herz mit stechenden Sorgen, haucht ihr schädlichen Geifer ein und verteilt zwischen ihren Knochen und mitten in der Lunge pechschwarzes Gift. Damit man nicht weit nach der Ursache des Übels suchen muss, stellt sie ihr die Schwester vor Augen, die glückliche Ehe der Schwester, den Gott in seiner schönen Gestalt; und alles bauscht sie auf. Dadurch verstört, verzehrt sich die Cecropstochter heimlich in ihrem Schmerz, sie seufzt gepeinigt des Nachts und am Tage. Die Ärmste vergeht in langsamem Siechtum wie Eis, das von noch halbverdeckter Sonne zum Schmelzen gebracht wird. Durch das Wohl der glücklichen Herse wird sie nicht sanfter verbrannt, als wenn Feuer unter das Dornenkraut gelegt wird, welches keine Flammen hervorbringt, sondern von schwelender Glut verzehrt wird. |
(812) saepe mori voluit, ne quicquam tale videret, saepe velut crimen rigido narrare parenti; denique in adverso venientem limine sedit exclusura deum. cui blandimenta precesque verbaque iactanti mitissima ‘desine!’ dixit, ‘hinc ego me non sum nisi te motura repulso.’ ‘stemus’ ait ‘pacto’ velox Cyllenius ‘isto!’ caelestique fores virga patefecit: at illi surgere conanti partes, quascumque sedendo flectimur, ignava nequeunt gravitate moveri: | (812) Oft wollte sie sterben, um solches nicht ansehen zu müssen, oft wollte sie es dem strengen Vater wie ein Verbrechen beichten; schließlich setzte sie sich auf die Schwelle gegenüber, um den Gott bei seinem Kommen auszusperren. Zu ihm, der ihr Schmeicheleien, Bitten und zärtlichste Worte entgegenrief, sprach sie: Hör auf! Von hier werde ich mich nicht wegbewegen, bis ich dich vertrieben habe. Bei diesem Pakt, sprach der schnelle Cyllener (Merkur), können wir bleiben, und öffnete die Türflügel mit seinem Himmelsstab. Bei dem Versuch nun, sich zu erheben, lassen sich die Glieder, die sie beim Sitzen gebeugt hat, in träger Ermattung nicht mehr von ihr bewegen. |
(822) illa quidem pugnat recto se attollere trunco, sed genuum iunctura riget, frigusque per ungues labitur, et pallent amisso sanguine venae; utque malum late solet inmedicabile cancer serpere et inlaesas vitiatis addere partes, sic letalis hiems paulatim in pectora venit vitalesque vias et respiramina clausit, nec conata loqui est nec, si conata fuisset, vocis habebat iter: saxum iam colla tenebat, oraque duruerant, signumque exsangue sedebat; nec lapis albus erat: sua mens infecerat illam. | (822) Jene müht sich zwar, mit geradem Oberkörper aufzustehen, aber die Kälte kriecht bis in die Zehennägel, die Adern erblassen aufgrund des Blutverlustes. So wie sich das unheilbare Übel, der Krebs, im Körper auszubreiten pflegt und den geschädigten Körperteilen gesunde hinzufügt, so schlich sich der tödliche Frost in die Brust und verschloss Lebensadern und Atemwege. Sie versuchte nicht zu reden. Hätte sie es versucht, hätte sie für die Worte einen Weg haben müssen. Der Stein hatte schon den Hals umschlossen, die Gesichtszüge waren hart geworden; sie saß da als blutleere Figur; aber es war kein weißer Stein: ihr Charakter hatte sie besudelt. |
Kapitelübersicht
- Metamorphosen II
- Ovid: Metamorphosen II: 1-149
- Ovid: Metamorphosen II: 150-300
- Ovid: Metamorphosen II: 301-400
- Ovid: Metamorphosen II: 401-532
- Ovid: Metamorphosen II: 533-549
- Ovid: Metamorphosen II: 550-595
- Ovid: Metamorphosen II: 596-632
- Ovid: Metamorphosen II: 633-675
- Ovid: Metamorphosen II: 676-707
- Ovid: Metamorphosen II: 708-832
- Ovid: Metamorphosen II: 833-875