Ovid, Buch III: Metamorphosen 1-130 (Deutsche Übersetzung) – Cadmus
Lateinischer Text | Übersetzung |
(1) Iamque deus posita fallacis imagine tauri se confessus erat Dictaeaque rura tenebat, cum pater ignarus Cadmo perquirere raptam imperat et poenam, si non invenerit, addit exilium, facto pius et sceleratus eodem. orbe pererrato (quis enim deprendere possit furta Iovis?) profugus patriamque iramque parentis vitat Agenorides Phoebique oracula supplex consulit et, quae sit tellus habitanda, requirit. ‘bos tibi’ Phoebus ait ‘solis occurret in arvis, nullum passa iugum curvique inmunis aratri. hac duce carpe vias et, qua requieverit herba, moenia fac condas Boeotiaque illa vocato.’ | (1) Schon hatte der Gott die trügerische Gestalt des Stiers abgelegt, sich geoffenbart und die Felder Kretas erreicht, als der ahnungslose Vater dem Cadmus auftrug, über die Geraubte intensive Nachforschungen anzustellen; er fügte als Strafe, falls er sie nicht finden sollte, die Verbannung hinzu, durch ein und dieselbe Handlung zärtlich und schrecklich zugleich. Nachdem er den Erdkreis durchirrt hat (wer kann denn eine Beute Jupiters an sich nehmen?), meidet der Agenorssohn als Flüchtling die Heimat und den Zorn des Vaters und befragt in Demut das Orakel des Phoenix, und fragt nach einem Land, in dem er wohnen kann. Phoebus spricht: „Eine Kuh wird dir in der Gegend über den Weg laufen, die nie ein Joch geduldet hat und den krummen Pflug nicht gewohnt ist. Schlage die Wege ein, die sie führt. Auf der Wiese, auf der sie ausruht, sieh zu, daß du einen Mauerring baust. Diesen sollst du böotisch (nach der Kuh) nennen. |
(14) vix bene Castalio Cadmus descenderat antro, incustoditam lente videt ire iuvencam nullum servitii signum cervice gerentem. subsequitur pressoque legit vestigia gressu auctoremque viae Phoebum taciturnus adorat. iam vada Cephisi Panopesque evaserat arva: bos stetit et tollens speciosam cornibus altis ad caelum frontem mugitibus inpulit auras atque ita respiciens comites sua terga sequentis procubuit teneraque latus submisit in herba. Cadmus agit grates peregrinaeque oscula terrae figit et ignotos montes agrosque salutat. Sacra Iovi facturus erat: iubet ire ministros et petere e vivis libandas fontibus undas. | (14) Gerade eben war Cadmus aus der Castalischen Grotte herabgestiegen, da sieht er eine unbewachte junge Kuh langsam laufen – dabei trägt sie kein Zeichen der Fron auf ihrem Nacken; er folgt ihr und liest gedämpften Schrittes ihre Spuren und betet leise zu Phoebus, dem Weiser des Weges. Schon hatte er die Untiefen des Kephisos und die Felder von Panope hinter sich gelassen, da blieb das Rind stehen und ließ die Luft durch Muhen erzittern, indem es die prächtige Stirn mit den langen Hörnern zum Himmel emporhob und blickte sich so über den Rücken zu seinen Begleitern um, die ihm folgten, ließ sich nieder und legte die Flanke ins weiche Gras. Cadmus spricht ein Dankgebet und küßt den fremden Boden und grüßt die unbekannten Berge und Felder. Er wollte dem Jupiter Opfer darbringen – so trägt er den Dienern auf, loszuziehen und aus lebendiger Quelle Wasser für ein Trankopfer zu besorgen. |
(28) silva vetus stabat nulla violata securi, et specus in media virgis ac vimine densus efficiens humilem lapidum conpagibus arcum uberibus fecundus aquis; ubi conditus antro Martius anguis erat, cristis praesignis et auro; igne micant oculi, corpus tumet omne venenis, tresque vibrant linguae, triplici stant ordine dentes | (28) Ein alter Wald stand da, von keiner Axt geschlagen, und mitten darin eine dichte Höhle, durch die Verbindungen von Steinen mit Zweigen und der Weidenrute einen niedrigen Bogen bildend. durch Wasserreichtum fruchtbar. Hier in der Höhle hielt sich ein Drache verborgen, der dem Mars geweiht war, durch seine Kämme und Gold vor anderen ausgezeichnet. Die Augen sprühen Feuerfunken, der ganze Körper ist von Gift angeschwollen, drei Zungen züngeln hervor, die Zähne stehen in drei Reihen hintereinander. |
(35) quem postquam Tyria lucum de gente profecti infausto tetigere gradu, demissaque in undas urna dedit sonitum, longo caput extulit antro caeruleus serpens horrendaque sibila misit. effluxere urnae manibus sanguisque reliquit corpus et attonitos subitus tremor occupat artus. ille volubilibus squamosos nexibus orbes torquet et inmensos saltu sinuatur in arcus ac media plus parte leves erectus in auras despicit omne nemus tantoque est corpore, quanto, si totum spectes, geminas qui separat arctos. | (35) Nachdem die Abkömmlinge des tyrischen Volkes diesen Wald mit unseligem Schritt betreten hatten und das Gefäß, das ins Wasser herabgelassen worden war, ein Geräusch von sich gab, erhob der schwarzblaue Drache sein Haupt aus der weiten Höhle und stieß ein furchtbares Zischen aus: Die Gefäße entglitten den Händen, das Blut weicht aus dem Körper und ein plötzliches Zittern erfasst die betäubten Glieder. Jener dreht schuppige Kreise in schnell fließenden Windungen und krümmt sich im Sprung zu unermesslichen Bögen. Weit über die Leibesmitte in die leichten Lüfte emporgereckt blickt er auf den ganzen Wald herab und kommt an Körpergröße – betrachtest du ihn ganz – dem (Sternbild Drachen) gleich, der die beiden Bärinnen voneinander trennt (das Sternbild des Drachens verläuft zwischen den Sternbildern des großen und des kleinen Bären). |
(46) nec mora, Phoenicas, sive illi tela parabant sive fugam, sive ipse timor prohibebat utrumque, occupat: hos morsu, longis conplexibus illos, hos necat adflati funesta tabe veneni. Fecerat exiguas iam sol altissimus umbras: quae mora sit sociis, miratur Agenore natus vestigatque viros. tegumen derepta leoni pellis erat, telum splendenti lancea ferro et iaculum teloque animus praestantior omni. | (46) Und ohne zu zögern greift er die Phönizier an – gleichgültig, ob sie die Waffen ergreifen oder die Flucht oder ob gerade die Furcht beides verhindert. Die einen tötet er durch einen Biss, die anderen durch lange Umschlingungen, wieder andere, indem er sie mit seinem Pesthauch anbläst. Schon hatte die Sonne auf ihrem höchsten Stand winzige Schatten geworfen, da wundert sich der Sohn Agenors, was seine Gefährten aufhielt und spürt den Männern nach. Als Bedeckung diente ihm das abgezogene Fell eines Löwen, als Waffe eine Lanze aus glänzendem Eisen und ein Wurfspieß; dazu kam sein Mut, der jede Waffe übertraf. |
(55) ut nemus intravit letataque corpora vidit victoremque supra spatiosi tergoris hostem tristia sanguinea lambentem vulnera lingua, ‘aut ultor vestrae, fidissima pectora, mortis, aut comes’ inquit ‘ero.’ dixit dextraque molarem sustulit et magnum magno conamine misit. illius inpulsu cum turribus ardua celsis moenia mota forent, serpens sine vulnere mansit loricaeque modo squamis defensus et atrae duritia pellis validos cute reppulit ictus; | (55) Sowie er den Wald betrat, sah er die gemeuchelten Leiber und darüber den feindlichen Sieger mit riesigem Körper, der mit blutiger Zunge die schlimmen Wunden beleckte. Er sprach: Entweder werde ich der Rächer eures Todes sein, ihr treuesten Leichname, oder euer Begleiter. Dann hob er mit der Rechten einen mühlsteingroßen Felsen auf und schleuderte den mächtigen Block mit großer Anstrengung. Durch dessen Wucht würden steile Mauern mit hohen Türmen ins Wanken geraten; der Drache blieb frei von Verletzungen. Geschützt durch die Schuppen wie durch einen Panzer und durch die Härte der schwarzen Hülle wehrte er die harten Schläge mit der Haut ab. |
(65) at non duritia iaculum quoque vicit eadem, quod medio lentae spinae curvamine fixum constitit et totum descendit in ilia ferrum. ille dolore ferox caput in sua terga retorsit vulneraque adspexit fixumque hastile momordit, idque ubi vi multa partem labefecit in omnem, vix tergo eripuit; ferrum tamen ossibus haesit. | (65) Doch den Wurfspieß übertraf sie nicht auch an gleicher Härte; inmitten der Krümmung des biegsamen Rückgrats blieb er stecken und die ganze Eisenspitze bohrte sich in die Eingeweide. Wildgeworden durch den Schmerz beugte er den Kopf zu seinem Rücken zurück, sah auf die Wunden und bis in die feststeckende Lanze. Er riss ihn nur mit Mühe aus dem Rücken, wo er ihn mit viel Kraft lockerte. Die Eisenspitze aber blieb in den Knochen hängen. |
(72) tum vero postquam solitas accessit ad iras causa recens, plenis tumuerunt guttura venis, spumaque pestiferos circumfluit albida rictus, terraque rasa sonat squamis, quique halitus exit ore niger Stygio, vitiatas inficit auras. | (72) Dann aber, nachdem sich ein neuer Grund für die üblichen Wutausbrüche eingestellt hatte, schwoll der Hals von angefüllten Adern an. Weißer Schaum floss um die todbringenden Mäuler (rictus pestiferos ist Plural – hat der Drache wie der Höllenhund Cerberus mehrere Köpfe) und die von den Schuppen zerkratzte Erde dröhnt und schwarzer Atem dringt aus dem stygischen Maul und durchdringt die verpestete Luft. |
(77) ipse modo inmensum spiris facientibus orbem cingitur, interdum longa trabe rectior adstat, inpete nunc vasto ceu concitus imbribus amnis fertur et obstantis proturbat pectore silvas. cedit Agenorides paulum spolioque leonis sustinet incursus instantiaque ora retardat cuspide praetenta: furit ille et inania duro vulnera dat ferro figitque in acumine dentes. iamque venenifero sanguis manare palato coeperat et virides adspergine tinxerat herbas; sed leve vulnus erat, quia se retrahebat ab ictu laesaque colla dabat retro plagamque sedere cedendo arcebat nec longius ire sinebat, donec Agenorides coniectum in guttura ferrum usque sequens pressit, dum retro quercus eunti obstitit et fixa est pariter cum robore cervix. | (77) Er selbst krümmt sich bald zu einem riesigen Kreis, indem er sich windet, dann wieder steht er aufrechter da als ein hoher Baumstamm. Jetzt reißt es ihn mit mächtigem Schwung fort wie einen Wildbach, der durch Regengüsse reißend wurde; Wälder, die im Weg stehen, wirft er mit seinem Brustpanzer um. Der Sohn Agenors weicht ein wenig zurück, wehrt die Angriffe mit dem Löwenfell ab und hält die schnappenden Mäuler mit ausgestreckter Lanze fern. Jener tobt herum und versetzt dem harten Eisen wirkungslose Hiebe und schlägt die Zähne in die Speerspitze. Schon hatte Blut vom giftigen Gaumen zu fließen begonnen und hatte durch Spritzer die grünen Gräser befleckt – aber die Wunde war harmlos, weil der Drache immer wieder vor dem Stoß (mit der Lanze) zurückwich, den verwundeten Hals zurückbog und durch sein Ausweichen verhinderte, dass ein Stoß saß, und er ließ es auch nicht zu, dass (die Lanze) weiter eindrang, bis der Sohn Agenors ihm die geschleuderte Waffe immer weiter in die Kehle drückte, indem er ihm auf den Leib rückte. Endlich stand dem Zurückweichenden eine Eiche im Weg und mit Gewalt wurde er sogleich am Nacken angenagelt. |
(90) pondere serpentis curvata est arbor et ima parte flagellari gemuit sua robora caudae. Dum spatium victor victi considerat hostis, vox subito audita est; neque erat cognoscere promptum, unde, sed audita est: ‘quid, Agenore nate, peremptum serpentem spectas? et tu spectabere serpens. | (93) Der Baum wurde unter der Last des Drachens gekrümmt und er stöhnte, weil sein Innerstes vom Schwanzende gepeitscht wurde. Während der Sieger die Größe des besiegten Feindes betrachtete, ließ sich auf einmal eine Stimme vernehmen (woher sie kam, ließ sich nicht ausmachen, aber man konnte sie hören): Sohn des Agenor! Was starrst du auf den toten Drachen? Auch du wirst (einst) als Drache betrachtet werden. |
(99) ille diu pavidus pariter cum mente colorem perdiderat, gelidoque comae terrore rigebant: ecce viri fautrix superas delapsa per auras Pallas adest motaeque iubet supponere terrae vipereos dentes, populi incrementa futuri. paret et, ut presso sulcum patefecit aratro, spargit humi iussos, mortalia semina, dentes. inde (fide maius) glaebae coepere moveri, primaque de sulcis acies adparuit hastae, tegmina mox capitum picto nutantia cono, mox umeri pectusque onerataque bracchia telis exsistunt, crescitque seges clipeata virorum: | (99) Eine ganze Weile hatte jener die Fassung und zugleich die Farbe verloren; in eisigem Schrecken erstarrten noch die Haare – da ist auf einmal die Beschützerin des Mannes da, Pallas (Athene), die durch die hohen Wolkenschichten herabgeschwebt ist. Sie trägt ihm auf, die Drachenzähne in das aufgebrochene Erdreich zu legen als Saat eines zukünftigen Volkes. Er gehorcht und sät die Zähne wie befohlen als Saat von Sterblichen in den Boden, jedesmal wenn er mit niedergedrücktem Pflug eine Furche geöffnet hat. Von da an begannen sich die Erdschollen tatsächlich zu bewegen: als Erstes tauchte aus den Furchen eine Lanzenspitze auf, bald darauf Helme mit bunten Helmbüschen, dann kommen Schultern, die Brust und Arme, beladen mit Waffen, ans Licht und eine schildbewehrte Saat von Männern wächst heran. |
(111) sic, ubi tolluntur festis aulaea theatris, surgere signa solent primumque ostendere vultus, cetera paulatim, placidoque educta tenore tota patent imoque pedes in margine ponunt. Territus hoste novo Cadmus capere arma parabat: ‘ne cape!’ de populo, quem terra creaverat, unus exclamat ‘nec te civilibus insere bellis!’ atque ita terrigenis rigido de fratribus unum comminus ense ferit, iaculo cadit eminus ipse; | (111) So ist es auch, wenn in den festlichen Theatern die Vorhänge emporgezogen werden (in den antiken Theatern wurden die Vorhänge nicht herabgelassen, sondern vom Boden aus nach oben gezogen): Die (darauf gemalten) Gestalten steigen für gewöhnlich nach oben und zeigen zuerst das Gesicht, dann allmählich den Rest, bis sie in ruhigem Verlauf hochgezogen völlig sichtbar sind und die Füße auf den unteren Rand setzen. Erschrocken durch den neuen Feind schickte Cadmus sich an, zu den Waffen zu greifen. Da schreit einer aus dem Volk, das die Erde hervorgebracht hatte, auf: Nimm sie nicht und mische dich nicht in Bürgerkriege ein! Und so bringt er einen seiner erdgeborenen Brüder in der Nähe mit dem erbarmungslosen Schwert um; er selbst fällt durch einen Speer aus der Ferne. |
(120) hunc quoque qui leto dederat, non longius illo vivit et exspirat, modo quas acceperat auras, exemploque pari furit omnis turba, suoque Marte cadunt subiti per mutua vulnera fratres. iamque brevis vitae spatium sortita iuventus sanguineam tepido plangebat pectore matrem, quinque superstitibus, quorum fuit unus Echion. is sua iecit humo monitu Tritonidis arma fraternaeque fidem pacis petiitque deditque: hos operis comites habuit Sidonius hospes, cum posuit iussus Phoebeis sortibus urbem. | (120) Auch der, der diesen umgebracht hatte, lebt nicht länger als er und haucht den Lebensodem aus, den er gerade erst empfangen hatte. Die ganze Schar tobt in gleicher Weise und jäh fallen die Brüder in ihrem Kampf durch Wunden, die sie sich gegenseitig zugefügt haben. Schon schlug die Jugend, der eine kurze Lebensspanne beschieden war, in Gestalt von fünf Überlebenden mit warmer Brust an die blutbefleckte Mutter. Einer von ihnen war Echion. Dieser warf auf Ermahnung durch Tritonis (Athene) hin seine Waffen zu Boden, bat um den Eid des brüderlichen Friedens und leistete ihn auch selbst. Diese Männer hatte der Fremdling aus Sidon als Helfer für sein Werk, als er die Stadt gründete, wie es ihm durch den Orakelspruch des Phoebus befohlen war. |