Die Geschichte von Gaius Mucius im ersten Latinerkrieg
Der Historiker Titus Livius schreibt über einen Tyrannen, der dieses Wort bis in die Gegenwart geprägt hat. Der römische König Lucius Tarquinius Superbus regiert mit einer harten Hand und ohne Herz. Er ist an die Macht gekommen, nachdem er seinen Schwiegervater ermorden ließ, und macht auch danach nicht halt vor Menschenleben. Eine adlige Familie nach der anderen erliegt seinem Greuel, bis er 504 v.Chr. aus Rom verbannt wird.
Er sucht Zuflucht bei seinem Verwandten Lars Porsenna, ein ehrbarer König des nicht weit entfernten Clusium. Ob der Bitte seines Cousins zieht Lars Porsenna mit seiner etruskischen Armee in den ersten Latinerkrieg gegen Rom. Rom ist zu dieser Zeit noch nicht die militärische Supermacht, für die es später bekannt wird. Es ist mehr ein Dorf, das unter der etruskischen Belagerung wankt und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Etrusker einfallen und dem Tyrann Lucius Tarquinius wieder zur Macht verhelfen.
Als die Lage verloren ist, erkennt ein junger Mann, wie er seine Heimat retten kann. Gaius Mucius fasst den Entschluss, dass er Lars Porsenna töten muss. Heimlich schleicht er sich mit der Deckung der Nacht aus Rom und gelangt unbemerkt in das Lager der Etrusker. Er dringt in das königliche Zelt ein und sticht sein Schwert in einen Mann mit edler Kleidung. Doch er hat den etruskischen König nie gesehen. Zu spät bemerkt er, dass der Tote vor ihm nur der Schreiber ist. Die Wachen fassen ihn und bringen ihn vor den etruskischen König. Wutentbrannt schreit der etruskische König Gaius Mucius an, er werde ihn erhängen. Gaius Mucius entgegnet, dass er nicht der einzige sei, der Porsenna im etruskischen Lager töten möchte und dass nach ihm noch weitere kommen werden. Der König möchte daraufhin die Namen aller wissen, die nach seinem Leben trachten, sonst würde er Gaius foltern. Da sieht Gaius Mucius eine Fackel in seiner Nähe. Er hebt seine rechte Hand und hält diese ins Feuer. Ungläubig starrt Porsenna den jungen Mann an, der weder seine Hand wegzieht noch Schmerzen auf seinem Gesicht zeigt. Als seine rechte Hand schon ganz verkohlt ist, sagt Gaius, seine verbrannte Hand ausstreckend: „Mein Körper ist wertlos, doch meine Ehre nicht. Ziehe fort von hier, sonst werden andere Römer wie ich kommen und dir dein Leben nehmen.“ Und tatsächlich, Porsenna schaut sowohl angsterfüllt als auch ehrfürchtig Gaius Mucius an, der seine Hand für sein Land aufgab. Er bricht die Belagerung ab und schenkt dem tapferen Gaius Mucius die Freiheit. Dieser, als er heldenhaft nach Rom zurückkehrt, bekommt einen besonderen Beinamen. Er geht ein in die Geschichte als Gaius Mucius Scaevola, was Linkshand bedeutet.
Ein medizinischer Blick auf den ersten Latinerkrieg
Bei den Erzählungen von Titus Livius, einem römischen Historiker, verschieben sich oft die Grenzen von historischer Realität und Sage. So geht man heutzutage davon aus, dass sowohl der Tyrann Lucius Tarquinius Superbus als auch der Etruskerkönig Lars Porsenna existiert haben und dass dieser um 500 v. Chr. Rom belagert hat. Es gibt jedoch unterschiedliche Darstellungen, wie erfolgreich diese Belagerung gewesen ist. So stellt Titus Livius in einem anderen Text dar, dass die Etrusker Rom damals erobert haben und erwähnt Gaius Mucius nicht. Dennoch ist die Geschichte um Gaius Mucius Scaevola so beeindruckend, dass ich einmal darstellen möchte, wieso sie ebenfalls möglich ist.
Zentral in der obigen Geschichte ist, dass Gaius Mucius, scheinbar schmerzlos, seine rechte Hand verbrennt und damit den Etrukserkönig beeindruckt. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass Titus hiermit durch eine Hyperbel (Übertreibung) den Mut und Vaterlandsliebe der Römer als Vorbild für spätere Generationen darstellen wollte. Ein anderer möglicher Schluss ist, dass Gaius Mucius krank war.
Syringomyelie oder kongenitale Analgesie als Ursache für Schmerzfreiheit?
In der heutigen Literatur gehen die meisten davon aus, dass Gaius Mucius an Syringomyelie litt. Hierbei entsteht im Rückenmark ein Aufstau an Gehirnwasser, Liquor genannt, der eine Höhle bildet und dort Druck auf das Rückenmark übt. Eine Syringomyelie tritt häufig im Alter von 20 bis 30 Jahren auf, also dem vermutlichen Alter von Gaius Mucius, und zwar im Bereich der Hals- und Brustwirbelsäule, also dem Bereich aus denen die Nerven in den Arm und in die Hand gehen. Wird dort also Druck auf diese Nerven ausgeübt, verlieren die Nerven ihre Funktion. Das Resultat sind Missempfindungen und Lähmungen an den Händen. Außerdem verliert der Betroffene die Temperatur- und Schmerzempfindung an der Hand, wie es bei Gaius Mucius der Fall gewesen sein könnte.
Eine andere mögliche Erkrankung könnte die kongenitale Analgesie sein. Hierbei entsteht durch eine Mutation in einem Gen für Schmerzwahrnehmung eine völlige Schmerzfreiheit. Was sich zuerst positiv anhört, ist für Kranke extremst gefährlich, denn Schmerz ist ein wichtiger Lehrer. Ein dramatischer Fall aus heutiger Zeit stellt das zur Schau. Ein 14-jähriger pakistanischer Junge mit kongenitaler Analgesie verletzte sich selbst regelmäßig mit Messern, um damit seine Freunde zu beeindrucken. Eines Tages trieben ihn seine Freunde dazu, aus einem Dachgeschoss zu springen, woran der Junge starb.
Auch Gaius Mucius stellt seine Schmerzlosigkeit zur Schau, was ein Anzeichen der kongenitalen Analgesie sein kann. Dennoch ist die kongenitale Analgesie sehr selten. Heutzutage sind glücklicherweise nur 30 Personen erkrankt.
In Anbetracht der obigen Krankheit kann folgendes Bild gekennzeichnet werden. Gaius Mucius hat noch nie in seinem Leben Schmerz gespürt und ist deswegen furchtlos. Als Rom verloren scheint, sieht er seine Chance. Er geht zum Etruskerkönig, vermasselt aber das Attentat. Als er dann vor diesem steht, legt er seine Hand ins Feuer. Der Etruskerkönig weiß nichts von der Krankheit und gibt die Belagerung beeindruckt auf. Gaius Mucius kehrt als Scaevola, Linkshand, zurück. Er spürt zwar keine Schmerzen, doch seine Hand ist verloren. Denn das tückische an der kongenitalen Analgesie ist, dass Schmerzen ein Warnsignal des Körpers sind, um den Körper vor Gefahren zu schützen. Fällt dieser Schmerz aus, fühlt der Kranke sich zwar unbesiegbar wie Gaius und der pakistanische Junge, doch ist deren Körper genauso gebrechlich wie der jedes Menschen.
Autor: Hasan Hüseyin Hendek
Kapitelübersicht
- Rom
- Kinder im alten Rom
- Res publica: Magistrat
- Gladiatorenspiele
- Römische Ehe
- Ehe und Tugend
- Gaius Mucius: Eine Krankheit rettet Rom?
- Stoa nach Seneca
- Rhetorik