Ovid, Buch I: Metamorphosen 209-239 (Deutsche Übersetzung) – Lycaon
Lateinischer Text | Übersetzung |
(209) ‘ille quidem poenas (curam hanc dimittite!) solvit; quod tamen admissum, quae sit vindicta, docebo. Contigerat nostras infamia temporis aures; quam cupiens falsam summo delabor Olympo et deus humana lustro sub imagine terras. Longa mora est, quantum noxae sit ubique repertum, enumerare: minor fuit ipsa infamia vero. | (209) Jener verbüßt jedenfalls seine Strafe (diese Sorge könnt ihr fahrenlassen). Was aber das Verbrechen, was die Strafe ist, darüber will ich euch aufklären: Der schlechte Ruf dieser Zeit war uns zu Ohren gekommen. Mein Wunsch ist, dass er sich als falsch erweist. So schwebe ich vom hohen Olymp herab und durchwandere als Gott in Menschengestalt die Länder der Erde. Es dauert lange, aufzuzählen, wieviel Schuld sich überall findet: Der schlechte Ruf war besser als die Wirklichkeit. |
(216) Maenala transieram latebris horrenda ferarum et cum Cyllene gelidi pineta Lycaei: Arcadis hinc sedes et inhospita tecta tyranni ingredior, traherent cum sera crepuscula noctem. Signa dedi venisse deum, vulgusque precari coeperat: inridet primo pia vota Lycaon, mox ait “experiar deus hic discrimine aperto an sit mortalis: nec erit dubitabile verum.” Nocte gravem somno necopina perdere morte comparat: Haec illi placet experientia veri; | (216) Ich hatte den Maenalus – schreckenerregend, weil er wilden Tieren Unterschlupf bietet – und die Cyllene und mit ihr die kalten Fichtenwälder des Lycaeus überschritten (Maenalus, Cyllene und Lycaeus sind Gebirge in der Landschaft Arkadien). Hierauf betrete ich den Wohnsitz und das ungastliche Haus des arkadischen Tyrannen, während andauernde Dunkelheiten die Nacht in die Länge ziehen. Ich gab Zeichen, dass ein Gott gekommen sei; das Volk hatte zu beten angefangen. Lycaon lacht zunächst über die frommen Gebete, bald darauf spricht er: „Ich werde mit klaren Mitteln prüfen, ob dieser ein Gott oder ein Sterblicher ist, und der wahre Sachverhalt wird nicht anzuzweifeln sein.“ Er hat vor, mich Erhabenen nachts im Schlaf mit einem unvermuteten Tod zu verderben: Das gefällt ihm als Prüfung der Wahrheit. |
(226) Nec contentus eo, missi de gente Molossa obsidis unius iugulum mucrone resolvit atque ita semineces partim ferventibus artus mollit aquis, partim subiecto torruit igni. | (226) Und damit gibt er sich nicht zufrieden: Er schnitt die Kehle einer Geisel, welche vom Volk der Molosser gestellt worden war, mit dem Dolch auf und weichte so die noch warmen Glieder teils in siedendem Wasser auf, teils röstete er sie über darunter angezündetem Feuer. |
(230) quod simul inposuit mensis, ego vindice flamma in domino dignos everti tecta penates; Territus ipse fugit nactusque silentia ruris exululat frustraque loqui conatur: Ab ipso colligit os rabiem solitaeque cupidine caedis vertitur in pecudes et nunc quoque sanguine gaudet. | (230) Sobald er dies auftischte, ließ ich mit rächender Flamme die Dachbalken auf das Haus stürzen, das seines Herrn würdig war; er selbst flieht erschrocken, und nachdem er die ländliche Stille erreicht hat, heult er auf und versucht vergeblich zu sprechen. Sein Gesicht zieht sich zur tollwütigen Fratze zusammen, seine Lust am gewohnten Morden übt er am Herdenvieh aus und freut sich noch heute am Blutvergießen.
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(236) in villos abeunt vestes, in crura lacerti: fit lupus et veteris servat vestigia formae; canities eadem est, eadem violentia vultus, idem oculi lucent, eadem feritatis imago est. | (236) Seine Kleidung verwandelt sich in Zottelfell, die Arme werden zu Beinen; er wird zum Wolf und behält dabei Reste seiner früheren Gestalt: dieselbe graue Haarfarbe, dieselbe gewalttätige Miene ist es; dieselben Augen leuchten, dasselbe Bild der Wildheit ist da. |