Ovid, Buch I: Metamorphosen 568-688 (Deutsche Übersetzung) – Jupiter und Io (I)
Lateinischer Text | Übersetzung |
(568) Est nemus Haemoniae, praerupta quod undique claudit silva: vocant Tempe; per quae Peneos ab imo effusus Pindo spumosis volvitur undis deiectuque gravi tenues agitantia fumos nubila conducit summisque adspergine silvis inpluit et sonitu plus quam vicina fatigat: haec domus, haec sedes, haec sunt penetralia magni amnis, in his residens facto de cautibus antro, undis iura dabat nymphisque colentibus undas. | (568) In Hämonien (Thessalien) liegt ein Hain, Tempe genannt, rings umgeben von einem steil ansteigenden Wald. Durch diesen wälzt sich der Peneus (Peneios), der tief im Pindus (Grenzgebirge von Thessalien) entspringt. Mit schäumenden Fluten und in mächtigem Sturz sammelt er Wolken, die zarte Nebelschleier vor sich her treiben, und durch sein Aufspritzen lässt er es bis auf die Wälder ganz oben regnen und durch seinen Lärm zermürbt er ein größeres Gebiet als (nur) die benachbarte Umgebung. Das ist die Heimat, der Wohnsitz, das sind die Heiligtümer des großen Stromes. Hier saß er in einer Höhle, die aus den Klippen entstanden war und sprach Recht über die Gewässer und über die Nymphen, die die Fluten bewohnen. |
(577) conveniunt illuc popularia flumina primum, nescia, gratentur consolenturne parentem, populifer Sperchios et inrequietus Enipeus Apidanosque senex lenisque Amphrysos et Aeas, moxque amnes alii, qui, qua tulit inpetus illos, in mare deducunt fessas erroribus undas. | (577) Hier strömen zuerst die einheimischen Flüsse zusammen, unschlüssig, ob sie dem Vater gratulieren oder ob sie im Beileid wünschen sollen: der von Pappeln umsäumte Spercheus, der rastlose Enipeus, der greise Apidanus, der sanfte Amphrysus und Aeas; bald auch die anderen Flüsse, die ihre Fluten, welche ihr Ungestüm nach hier und dort trägt und die von den Irrwegen ermüdet sind, ins Meer führen. |
(583) Inachus unus abest imoque reconditus antro fletibus auget aquas natamque miserrimus Io luget ut amissam: nescit, vitane fruatur an sit apud manes; sed quam non invenit usquam, esse putat nusquam atque animo peiora veretur | (583) Als einziger fehlt Inachus; verborgen im Inneren einer Höhle mehrt er die Wasser durch seine Tränen. Der Ärmste trauert um seine Tochter Io wie um eine, die verlorenging; er weiß nicht, ob sie sich des Lebens freut oder ob sie bei den Göttern der Unterwelt ist. Doch er glaubt, dass die, die er nicht finden kann, nirgends ist und fürchtet im Herzen das Schlimmste. |
(588) Viderat a patrio redeuntem Iuppiter illam flumine et ‘o virgo Iove digna tuoque beatum nescio quem factura toro, pete’ dixerat ‘umbras altorum nemorum’ (et nemorum monstraverat umbras) ‘dum calet, et medio sol est altissimus orbe! quodsi sola times latebras intrare ferarum, praeside tuta deo nemorum secreta subibis, nec de plebe deo, sed qui caelestia magna sceptra manu teneo, sed qui vaga fulmina mitto. ne fuge me!’ fugiebat enim. iam pascua Lernae consitaque arboribus Lyrcea reliquerat arva, cum deus inducta latas caligine terras occuluit tenuitque fugam rapuitque pudorem. | (588) Jupiter hatte sie vom väterlichen Fluss heimkehren sehen und zu ihr gesagt: O Jungfrau, eines Jupiter würdig, die durch die Ehe irgendwen glücklich machen wird – suche den Schutz der tiefen Wälder auf (er hatte ihr einen schattigen Platz in den Wäldern gezeigt), wenn es heiß ist und die Sonne am höchsten Punkt in der Mitte ihrer Kreisbahn steht. Wenn Du Dich aber fürchtest, die Schlupfwinkel wilder Tiere allein zu betreten, wirst du geschützt durch den Beistand eines Gottes die Abgeschiedenheit der Wälder aufsuchen; nicht eines Gottes aus dem Fußvolk, sondern meines, der ich in der Hand das große Zepter des Himmels halte und Blitze in alle Richtungen schleudere. Lauf doch nicht vor mir weg! Sie floh nämlich. Schon hatte sie die Weiden von Lerna und die mit Bäumen bepflanzte Gegend von Lyrcea verlassen, als der Gott das weite Land mit Dunkelheit überzog und verfinsterte, ihre Flucht aufhielt und ihr die Unschuld raubte. |
(601) Interea medios Iuno despexit in Argos et noctis faciem nebulas fecisse volucres sub nitido mirata die, non fluminis illas esse, nec umenti sensit tellure remitti; atque suus coniunx ubi sit circumspicit, ut quae deprensi totiens iam nosset furta mariti. quem postquam caelo non repperit, ‘aut ego fallor aut ego laedor’ ait delapsaque ab aethere summo constitit in terris nebulasque recedere iussit. coniugis adventum praesenserat inque nitentem Inachidos vultus mutaverat ille iuvencam; bos quoque formosa est. speciem Saturnia vaccae, quamquam invita, probat nec non, et cuius et unde quove sit armento, veri quasi nescia quaerit. Iuppiter e terra genitam mentitur, ut auctor desinat inquiri: petit hanc Saturnia munus. | (601) Indessen schaute Juno herab inmitten zwischen die Felder. Sie wunderte sich, daß die flüchtigen Nebel am hellichten Tag das Antlitz der Nacht zeigten, spürt, daß sie nicht vom Fluß herrührten oder sich vom feuchten Boden gelöst hatten und blickt umher, wo wohl ihr Gatte sei – kannte sie doch schon die Affären ihres Mannes, der so oft ertappt worden war. Als sie ihn im Himmel nicht finden konnte, sprach sie: Entweder täusche ich mich oder man kränkt mich gerade. Sie schwebte hoch oben vom Himmel herab, landete auf der Erde und befahl den Nebeln, sich zu verziehen. Jener (Jupiter) aber hatte die Ankunft der Gattin vorausgeahnt und die Gestalt der Inachustochter in eine wohlgenährte junge Kuh verwandelt (auch als Rindvieh bietet sie noch einen erfreulichen Anblick). Das Aussehen der Kuh gefällt Saturnia (Juno), wenn auch nur widerwillig, und sie fragt, als würde sie die Wahrheit nicht kennen, wem (die Kuh) gehöre, von wo und aus welcher Herde sie stamme. Jupiter flunkert, sie entstamme dem Erdboden, damit nicht weiter nach dem Verursacher geforscht werde. Die Tochter Saturn erbittet sie sich als Geschenk. |
(617) quid faciat? crudele suos addicere amores, non dare suspectum est: Pudor est, qui suadeat illinc, hinc dissuadet Amor. victus Pudor esset Amore, sed leve si munus sociae generisque torique vacca negaretur, poterat non vacca videri! Paelice donata non protinus exuit omnem diva metum timuitque Iovem et fuit anxia furti, donec Arestoridae servandam tradidit Argo. | (617) Was soll er machen? Es ist schrecklich, seine Geliebte herzuschenken; sie nicht zu geben, ist verdächtig; zu jenem rät ihm das Schamgefühl, von diesem rät ihm die Liebe ab. Die Scham wäre von der Liebe besiegt worden, doch würde er seiner Gefährtin und Bettgenossin die Kuh als Geschenk verweigern, könnte es leicht geschehen, dass sie nicht als eine Kuh angesehen wird. Doch auch, nachdem ihr die Rivalin geschenkt worden war, verlor die Göttin nicht sofort alle Furcht. Sie scheute sich vor Jupiter und befürchtete weiter einen Ehebruch, bis sie sie dem Argus, Arestors Sohn, zur Bewachung anvertraute. |
(625) centum luminibus cinctum caput Argus habebat inde suis vicibus capiebant bina quietem, cetera servabant atque in statione manebant. constiterat quocumque modo, spectabat ad Io, ante oculos Io, quamvis aversus, habebat. luce sinit pasci; cum sol tellure sub alta est, claudit et indigno circumdat vincula collo. frondibus arboreis et amara pascitur herba. proque toro terrae non semper gramen habenti incubat infelix limosaque flumina potat. | (625) Argus hatte ein Haupt, das von hundert Augen umgeben war, davon gönnten sich nur je zwei abwechselnd Ruhe, die anderen wachten und blieben auf ihrem Posten. Wie auch immer er stand, er blickte auf Io: Auch wenn er sich umdrehte, hatte er Io vor Augen. Bei Tagesanbruch lässt er sie weiden; wenn die Sonne tief unter dem Horizont steht, schließt er sie ein und schlingt Fesseln um den unwilligen Hals. Die Unglückliche ernährt sich vom Laub der Bäume und bitterem Kraut und schläft auf dem Boden, der nicht immer Gras für ein Rind bietet und trinkt schlammiges Flusswasser. |
(635) illa etiam supplex Argo cum bracchia vellet tendere, non habuit, quae bracchia tenderet Argo, conatoque queri mugitus edidit ore pertimuitque sonos propriaque exterrita voce est. venit et ad ripas, ubi ludere saepe solebat, Inachidas: rictus novaque ut conspexit in unda cornua, pertimuit seque exsternata refugit. naides ignorant, ignorat et Inachus ipse, quae sit; at illa patrem sequitur sequiturque sorores et patitur tangi seque admirantibus offert. | (635) Auch wenn sie flehend die Arme zu Argus ausstrecken wollte, so hätte sie doch keine Arme, die sie zu Argo ausstrecken könnte; und wenn sie versucht zu klagen, kam aus ihrem Mund ein Muhen hervor und die Töne versetzten sie in Furcht und sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Sie kam auch an die Ufer, an denen sie oft spielte, an die Ufer des Inachus; und wie sie in den Wellen die ungewohnten Hörner erblickte, geriet sie in große Furcht und zog sich entsetzt zurück. Die Naiaden erkennen sie nicht, nicht einmal Inachus selbst weiß, wer sie ist; sie aber folgt dem Vater und folgt den Schwestern und duldet es, berührt zu werden und bietet sich ihren bewundernden Blicken dar. |
(645) decerptas senior porrexerat Inachus herbas: illa manus lambit patriisque dat oscula palmis nec retinet lacrimas et, si modo verba sequantur, oret opem nomenque suum casusque loquatur; littera pro verbis, quam pes in pulvere duxit, corporis indicium mutati triste peregit. ‘me miserum!’ exclamat pater Inachus inque gementis cornibus et nivea pendens cervice iuvencae ‘me miserum!’ ingeminat; ‘tune es quaesita per omnes nata mihi terras? tu non inventa reperta luctus eras levior! retices nec mutua nostris dicta refers, alto tantum suspiria ducis pectore, quodque unum potes, ad mea verba remugis! | (645) Inachus hatte ihr ausgerupfte Halme hingelegt. Sie beleckt seine Hand und gibt den väterlichen Händen Küsse und hält die Tränen nicht zurück und sie würde – stünden ihr nur Worte zur Verfügung – um Hilfe bitten und ihren Namen und das, was ihr geschehen ist, mitteilen. Buchstaben, die der Huf anstelle von (gesprochenen) Worten in den Sand schrieb, dienten als letzter trauriger Beweis der Gestaltwandlung. Ich Elender! schreit Vater Inachus und hängt sich an die Hörner und den Nacken der schneeweißen seufzenden Kuh. Ich Elender! verdoppelt er ihr Seufzen, bist du etwa die Tochter, nach der für mich in allen Ländern gesucht wurde? Als du noch nicht gefunden warst, war die Trauer um dich erträglicher als jetzt, da du aufgetaucht bist. Du schweigst und antwortest nicht auf unsere Worte. Nur Seufzer führst du aus tiefster Brust herauf und tust das, was du als einziges kannst, du erwiderst meine Worte mit Brüllen. |
(658) at tibi ego ignarus thalamos taedasque parabam, spesque fuit generi mihi prima, secunda nepotum. de grege nunc tibi vir, nunc de grege natus habendus. nec finire licet tantos mihi morte dolores; sed nocet esse deum, praeclusaque ianua leti aeternum nostros luctus extendit in aevum.’ talia maerenti stellatus submovet Argus ereptamque patri diversa in pascua natam abstrahit. ipse procul montis sublime cacumen occupat, unde sedens partes speculatur in omnes. | (658) Doch ahnungslos wollte ich Dir ein Ehegemach und eine Hochzeit bereiten; meine erste Hoffnung war die auf einen Schwiegersohn, meine zweite die auf Enkel. Nun musst du jemanden aus der Herde zum Mann nehmen, Nachwuchs von der Herde bekommen. Dazu ist es mir nicht erlaubt, solch große Schmerzen durch den Tod zu beenden, sondern es ist von Nachteil, ein Gott zu sein, und die verschlossene Pforte des Todes dehnt unsere Trauer auf eine unendliche Lebenszeit aus. Den auf diese Art Trauernden stößt der sternäugige Argus weg und führt die Tochter des Vaters, nachdem er sie weggerissen hat, auf abgelegene Weiden. Er selbst besetzt weit weg den hohen Gipfel eines Berges, von wo aus er sitzend in alle Richtungen späht. |
(668) Nec superum rector mala tanta Phoronidos ultra ferre potest natumque vocat, quem lucida partu Pleias enixa est letoque det imperat Argum. parva mora est alas pedibus virgamque potenti somniferam sumpsisse manu tegumenque capillis. haec ubi disposuit, patria Iove natus ab arce desilit in terras; illic tegumenque removit et posuit pennas, tantummodo virga retenta est: hac agit, ut pastor, per devia rura capellas dum venit abductas, et structis cantat avenis. | (668) Auch kann der Herrscher der Himmlischen das so große Leid der Phoronis (Schwester von Io) nicht länger ertragen und ruft seinen Sohn (Merkur), den ihm die hell leuchtende Plejade geboren hat, und trägt ihm auf, den Argus zu töten. Es dauert nur einen Augenblick, die Flügel für die Schuhe, die schlafbringende Rute in die mächtige Hand und den Helm für die Haare genommen zu haben; sobald er diese angelegt hat, springt der Jupitersproß von der väterlichen Burg auf die Erde. Dort nahm er den Helm ab und legte die Federn weg, nur die Rute wurde behalten: Hier treibt er wie ein Hirte Ziegen, die hergeführt wurden, während er seinem Ziel näherkommt, über unwegsames Land und bläst auf einer Flöte, die er sich gebastelt hat. |
(678) voce nova captus custos Iunonius ‘at tu, quisquis es, hoc poteras mecum considere saxo’ Argus ait; ‘neque enim pecori fecundior ullo herba loco est, aptamque vides pastoribus umbram.’ Sedit Atlantiades et euntem multa loquendo detinuit sermone diem iunctisque canendo vincere harundinibus servantia lumina temptat. | (678) Argus, der Wächter der Juno, sagte, ergriffen von dem neuartigen Klang und dem kunstfertigen Spiel: Wer du auch bist – du könntest mit mir auf diesem Felsen Platz nehmen. Sicherlich wächst das Gras für das Vieh nirgendwo kräftiger und du siehst Schatten, die wie für Schäfer gemacht sind. Der Nachkomme des Atlas setzte sich, füllte den dahingehenden Tag durch wortreiche Gespräche und versuchte durch das Blasen auf der Flöte (wörtl.: den zusammengebundenen Schilfrohren) die wachsamen Augen einzulullen. |
(685) ille tamen pugnat molles evincere somnos et, quamvis sopor est oculorum parte receptus, parte tamen vigilat. quaerit quoque (namque reperta fistula nuper erat), qua sit ratione reperta. | (685) Jener freilich kämpft gegen den sanften Schlummer an: Obwohl der Schlaf von einem Teil der Augen bereits angenommen worden ist, wacht er mit dem anderen Teil. Auch fragt er – denn die Flöte war gerade erst erfunden worden – auf welche Weise sie erfunden wurde. |